Bildungsbenachteiligungen überwinden

Eckhard Andermann

Anfang dieses Jahres haben sich die interkulturellen Waldorfschul-Initiativen aus Berlin, Dortmund, Dresden, Hamburg, Hanau, Kiel und Köln an der Mannheimer Interkulturellen Waldorfschule getroffen. Ziel des Treffens war es, den Stand der einzelnen Einrichtungen zu erfahren und Möglichkeiten der gegenseitigen Unterstützung auszuloten.

In seinem Eingangsreferat beschrieb Albert Schmelzer das gemeinsame Anliegen der interkulturellen Initiativen. Über 18 Millionen Menschen in Deutschland haben einen Migrationshintergrund, das sind über 22 Prozent der Bevölkerung. Rechnet man die Kinder unter fünf Jahren dazu, sind es 40 Prozent. Es bestehe eine strukturelle Bildungsbenachteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund aus Familien mit einem niedrigen ökonomischen Status: Sie sind an Haupt- und Realschulen über- und an Gymnasien unterrepräsentiert; doppelt so viele Jugendliche aus dieser Gruppe wie solche mit deutscher Herkunft verlassen die Schule ohne Abschluss. »Unser Ziel ist es, diese Bildungsbenachteiligung und institutionelle Diskriminierung zu überwinden«, so Albert Schmelzer.

Als in den 1970er Jahren deutlich wurde, dass die Gastarbeiter-Familien dauerhaft bleiben würden, war das die Geburtsstunde der Interkulturellen Pädagogik. Ihr Ziel war eine Eingliederung in die Gesellschaft unter Anerkennung der jeweiligen kulturellen Besonderheiten. Kulturelle Vielfalt wurde als Reichtum betrachtet, Vorurteile sollten ab­gebaut werden. Im Unterricht wurden Kinder mit Migrationshintergrund gern als »Experten« für ihre Heimatkultur herangezogen. In der Präposition »inter« drückt sich das Interesse am Anderen aus. Interkulturelle Pädagogik zielt demnach auf die Förderung der Individualität mit liebevollem Interesse für ihre Herkunftskultur.

Christiane Adam, Mitbegründerin und wissenschaftliche Begleiterin der Mannheimer Initiative, hob anschließend hervor, wie der waldorfpädagogische Ansatz das Zusammengehörigkeitsgefühl und die Sozialkompetenz stark positiv beeinflusst und damit identitätsstiftende Aufgaben übernimmt, wie Interviews mit Schülern belegen. Ihr Fazit: Waldorfschulen können für Schüler mit Migrationshintergrund einen anregungsreichen Bildungsraum bieten, im Besonderen dann, wenn die »interkulturelle Öffnung« der Schulen entwickelt wird. Die Waldorfpädagogik ist in besonderem Maße geeignet, dies zu leisten. Das drückt sich aus in dem Streben nach Mehrsprachigkeit, in einem transnationalen Geschichtsunterricht, in der Behandlung von Weltliteratur und Weltreligionen. Dabei ist es hilfreich, wenn Erzieher und Lehrer Kenntnisse über die Herkunfts- und Familienkultur der Kinder und Jugendlichen haben, ebenso wichtig aber sind Begegnungsqualitäten und entsprechende pädagogische Grundhaltungen wie Offenheit, Interesse, Positivität und Unbefangenheit.

Die Berichte aus den einzelnen Initiativen zeugen von viel Bewegung. Neben den bereits etablierten Schulen stecken einige noch in den Gründungsschuhen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie aus konkreten Notsituationen vor Ort geboren sind und sich an sozialen Brennpunkten angesiedelt haben.

Die interkulturelle Waldorfschule in der Mannheimer Neckarstadt besteht nun im 16. Jahr mit aktuell 268 Schülern in 12 Klassen. Das durchschnittliche Schulgeld liegt bei 80 Euro. Es folgt Berlin mit inzwischen 120 Schülern in fünf Klassen. Sie kommen überwiegend aus Kreuzberg und Neukölln; dort liegt das durchschnittliche Schulgeld 15 Euro höher. Dies zeigt, dass auch in der Finanzierung andere Wege gegangen werden müssen.

In Kiel entsteht im Stadtteil Gaarden eine Einrichtung, die 2020 beginnen will. Kiel-Gaarden ist ebenso ein sozialer Brennpunkt wie der Kölner multikulturelle Stadtteil Chorweiler. Ein interkultureller Arbeitskreis aus Erziehern und Lehrern steht dort noch ganz am Anfang und ist derzeit auf Grundstückssuche. Ebenso am Anfang stehen die Initiativen in Dresden und Hanau, die sich noch in der Konzeptphase befinden.

Besonders stellt sich die Situation in Hamburg dar. Nach einem abgebrochenen ersten Schulversuch von 2014-2016 gibt es wieder eine Initiative zur Gründung einer interkulturellen Waldorfschule im Stadtteil Wilhelmsburg. Hier muss zunächst das Vertrauen der Eltern wiedergewonnen werden. Doch bereits in diesem Jahr will die Schule beginnen. Bis dahin muss aber noch ein Gründungslehrer gefunden und die Finanzierung zur Überbrückung der Wartefrist geklärt werden.

Bereits seit 2009 ist die Bunte Schule in Dortmund-Nordstadt aktiv, mit einem vielfältigen Nachmittagsangebot für Kinder von sechs bis zwölf Jahren zu den Themen Lernen & Fördern, Spielen & Werken, Kunst & Musik und Natur & Umwelt. Die Bunte Schule bietet auch Elternberatung an.

Allen Initiativen gemeinsam ist der Impuls, die Waldorfpädagogik dorthin zu bringen, wo sie sonst nicht wäre: in die Schmelztiegel der Kulturen und in soziale Brennpunkte mit großem Konfliktpotenzial. Damit wirken sie auch dem Vorwurf entgegen, Waldorfschulen würden nur in einem sozialhomogenen Umfeld arbeiten.

In einer Abschlussrunde wurden die weitere Zusammenarbeit und die offenen Fragen besprochen. Es soll möglichst zwei Treffen im Jahr geben, ein nächstes ist für den Herbst 2019 vereinbart. Neben der gegenseitigen Unterstützung soll es auch darum gehen, die Bedeutung der interkulturellen pädagogischen Arbeit innerhalb des Bundes der Freien Waldorfschulen zu stärken – gerade angesichts der ständigen Veränderungen der Bevölkerungsstruktur und der aktuellen Migrationsbewegungen in der Welt.

Zur Sprecherin des Arbeitskreises wurde Susanne Piwecki, Geschäftsführerin der Interkulturellen Waldorfschule in Mannheim, gewählt, zu ihrem Stellvertreter Gerrit de Jong aus Hamburg. Die Tagungsteilnehmer stimmt hoffnungsvoll, dass im 100. Jahr der Waldorfpädagogik acht Initiativen zusammengekommen sind, um den Arbeitskreis der Interkulturellen Initiativen neu zu beleben.

Zum Autor: Eckhard Andermann ist Öffentlichkeitsarbeiter der Interkulturellen Waldorfschule in Mannheim.