Das Ende einer Schule. Warum die Freie Waldorfschule Rendsburg schließen musste

Franziska Cossham

Der Schließung war ein langer Überlebenskampf vorausgegangen. Am 23. April wurde dem Kollegium und den Eltern mitgeteilt, dass die Schule zum Ende des Schuljahres ihren Betrieb einstellen würde. Es folgten nach schweren Monaten des Hoffens und Bangens noch schwerere, denn jetzt mussten rund 320 Schüler einen neuen Schulplatz finden, die Prüfungen abgeschlossen und die Lehrer eine neue Arbeitsmöglichkeit finden. Zwar erfuhr die Schule Unterstützung durch die Landesarbeitsgemeinschaft und die umliegenden Waldorfschulen bei der Umverteilung der Schüler, doch ist eine Schulschließung nach so vielen Jahren zweifellos ein dramatisches und für alle Beteiligten traumatisierendes Ereignis. Klassenverbände werden auseinandergerissen, Schicksalsgemeinschaften werden zerstört.

Manche Klassen leerten sich schnell, da die Eltern mit dem Schulwechsel nicht bis zum Schuljahresende warten wollten. Permanent neue Unterrichtssituationen und eine nicht abreißenwollende Kette an Verabschiedungen waren die Folge. Dies alles wirkte verunsichernd und erschöpfend. Neben offen gezeigter Trauer kam es bei manchen Kindern zum stillen Rückzug, andere reagierten aggressiv. Mit all dem, der immensen Arbeit, den zahlreicher werdenden Vertretungsstunden und der intensiven Betreuung der Schüler, neben der Neuordnung der eigenen Zukunft, war das Rendsburger Kollegium in jenen Tagen auf sich allein gestellt.

Schulgeschichte

Gegründet wurde die Schule 1950 von Hans Georg Schweppenhäuser, dem damaligen Direktor der Schleswag, des ortsansässigen Energieversorgers. Schweppenhäuser hatte sich schon vor dem Krieg mit der Anthroposophie verbunden. Er wollte eine Waldorfschule für die Kinder seiner Angestellten nach dem Vorbild der Mutterschule in Stuttgart bauen. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es keine Waldorfschule in Schleswig-Holstein. Sein erster Antrag beim Bund der Freien Waldorfschulen wurde mit dem Hinweis auf den akuten Lehrermangel abgelehnt. Schweppenhäuser ließ sich aber von seinem Vorhaben nicht abbringen. Er trieb Gelder auf, ließ Pläne für den Schulbau erstellen, bereitete die Öffentlichkeit vor und informierte die Behörden. In Rendsburg entstand der erste Schulneubau nach dem Krieg, der nach waldorfarchitektonischen Kriterien gebaut wurde. Am 1. April 1950 nahm die Schule mit sechs Klassen und 270 Schülern die Arbeit auf und wuchs schnell. Die Schüler kamen nicht nur aus Rendsburg, sondern aus ganz Schleswig-Holstein. Bald waren die Klassen überfüllt und es gab lange Wartelisten.

Ein Internat wurde eröffnet, um den auswärtigen Schülern lange Schulwege zu ersparen. Innerhalb weniger Jahre wuchs die Schülerzahl auf 70o. Zu einem drastischen Einbruch der Schülerzahlen kam es, als Schweppenhäuser seinen Posten bei der Schleswag verlor. Doch stabilisierten sich diese im Laufe der Jahre auf 350-400.

Das Schulleben wurde von eindrucksvollen Lehrerpersönlichkeiten geprägt, die vielen Ehemaligen noch heute in lebendiger Erinnerung sind. Darunter Wilhelm Schwarz und Ernst-Michael Kranich, denen es gelang, den Schülern das Staunen über die Naturphänomene zu vermitteln, der leidenschaftliche Astrophysiker Werner Rauer, der zu denkerischen Experimenten herausforderte, und der Schriftsteller Rudolf Stibill, dessen Begeisterung für Dichtung und Kultur sich keiner entziehen konnte.

Ausbreitung der Waldorfpädagogik in Schleswig-Holstein

Mit Beginn der 1970er Jahre begann die Waldorfpädagogik sich in ganz Schleswig-Holstein auszubreiten. Im Laufe der Jahre entstanden acht weitere Waldorfschulen im Land. Mehrere der Gründungslehrer waren zuvor als junge Lehrer in Rendsburg tätig gewesen. Für die Rendsburger Schule bedeuteten die Neugründungen nicht nur einen Verlust an fähigen jungen Lehrern, sondern auch Schülerverluste. Hinzu kam, dass hervorragende Lehrer wie Ernst-Michael Kranich und Werner Rauer die Schule verließen, um an Lehrerseminaren tätig zu werden. In den 1980er und 1990er Jahren verschlechterte sich die finanzielle Situation der Schule. Ursache waren die gesunkenen Schülerzahlen und die wiederholten Kürzungen der Landeszuschüsse. Ferner erwies sich der Bau eines schönen, aber teuren Festsaales als große finanzielle Dauerbelastung. Auch kollegial wurden die Zeiten schwieriger. Die Kollegen der ersten und zweiten Generation gingen in den Ruhestand und in dem Vakuum, das sie hinterließen, entstand Unruhe.

Häufiger Lehrerwechsel und Unzufriedenheit unter Eltern und Schülern waren die Folge. Auch trat ein neues Phänomen auf: Waren die Differenzen über Richtungsentscheidungen in den ersten Jahren in teils heftigen Debatten in den Konferenzen ausgetragen worden, so verlagerten sie sich jetzt zunehmend in für das Gesamtkollegium nicht mehr zugängliche Bereiche. Eltern und Oberstufenschüler wurden in kollegiale Auseinandersetzungen hineingezogen. Schaden nahm vor allem das kollegiale Vertrauen. Gleichzeitig kam es nach der Fertigstellung des Saales zu einer musikalisch-künstlerischen Blüte.

Krisen

Im Jahr 2015 geriet die Schule in heftige Turbulenzen, nachdem dem damaligen Geschäftsführer aufgrund seiner Kontakte zur Reichsbürgerbewegung gekündigt worden war. Die Aufdeckung war möglich geworden, weil eine kleine Gruppe von Kollegen eigenständig Hinweisen nachging. Was aber danach geschah und wozu dieser Fall in den weiteren Jahren benutzt wurde, kann nur als hoch problematisch bezeichnet werden. Denn einige Menschen im Umfeld der Schule nutzten den Fall, um in der Öffentlichkeit Zweifel und Misstrauen gegenüber der Integrität der Schule als Ganzes zu säen.

In mehreren Artikeln der lokalen und überregionalen Presse sowie in den sozialen Netzwerken wurde der Eindruck geweckt, dass nicht nur der damalige Geschäftsführer, sondern die Schule bis in ihre Strukturen hinein vom reichsbürgerlichen Ideengut infiziert worden sei. Eltern und Schüler wurden in den Konflikt hineingezogen. Die Situation gipfelte schließlich darin, dass die Schulgremien nicht mehr arbeitsfähig waren. In dieser auswegslosen Situation rief ein Teil des Vorstandes den Bund der Freien Waldorfschulen um Hilfe an. Es wurde ein Prozess eingeleitet, in dessen Verlauf der amtierende Vorstand zurücktrat. Der Schulleitung stand von nun an ein externer Schulleiter vor. Auch die Geschäftsführung wurde neu besetzt. Ferner wurde mit einem Teil des Kollegiums eine Mediation durchgeführt.

Unter der neuen Führung kam der Schulbetrieb schon bald in ruhigere Bahnen. Strukturelle Reformen wurden durchgeführt, der Elternrat organisierte sich neu, das Verhältnis zwischen Eltern und Kollegium entspannte sich spürbar und die Finanzen wusste man bei dem neuen Vorstand und dem Geschäftsführer in guten Händen. Doch je tiefer sich der neue Vorstand einarbeitete, desto mehr traten die Folgen der Versäumnisse und mancher Fehlkalkulationen der Vergangenheit zu Tage. Die alten Gebäude waren sanierungsbedürftig, Versorgungsversprechen waren gemacht worden, die den Schulhaushalt belasteten und in der Zukunft noch mehr belasten würden.

Zwei Jahre verhandelte der Vorstand mit der Stadt, mit Banken und Stiftungen, doch das Ergebnis war stets das gleiche: Der Finanzbedarf von mehreren Millionen war zu hoch. Die aussichtslose Situation veranlasste den Vorstand im Herbst 2017 Insolvenz anzumelden. Nach einer dreimonatigen Vorlaufphase wurde am 1. Januar 2018 die Insolvenz eröffnet. Die Hoffnung, die der Vorstand mit der Insolvenz verband, war, die Schule mit diesem Schritt von finanziellen Altlasten zu befreien und mit neuerworbener Kreditwürdigkeit die anstehenden Gebäudesanierungen durchführen zu können. Im Dezember 2017 wurde der alte Verein im Vereinsregister gelöscht und es wurde ein neuer Schulverein gegründet.

Etwas Neues sollte entstehen und zunächst einmal schien es, dass dies auch gelingen würde, denn die vom Ministerium und vom Insolvenzverwalter gesetzten Bedingungen konnten weitgehend erfüllt werden. Die letzte Hürde war ein seit über eineinhalb Jahren andauernder Rechtsstreit um die Kündigung einer Kollegin, dessen Lösung den neuen Verein nicht durch unkalkulierbare Kosten belasten sollte.

Die letzte Phase dieses Rechtsstreits zog sich länger hin als ursprünglich gedacht. Schließlich fiel der Gütetermin in die letzte Schulwoche vor den Osterferien. Als am 23. März 2018 keine Einigung erzielt werden konnte, begannen sich die Ereignisse zu überschlagen. Die Schulgemeinschaft wurde auf eine Zerreißprobe gestellt, der sie nicht mehr gewachsen war. Die Verunsicherung unter den Eltern war so groß, dass viele in den Osterferien ihre Kinder abmeldeten. Auch begannen die Lehrer so um ihre Existenz zu bangen, dass einige sich nach neuen Arbeitsmöglichkeiten umsahen. Als nach den Ferien die Nachricht kam, dass eine Lösung gefunden worden war, um die eventuell aus dem Rechtsstreit resultierenden Kosten abzusichern, ohne den neuen Schulverein zu belasten, war es zu spät. Der Einbruch bei den Schülerzahlen war groß, auch fehlte es an Lehrern, um ein neues finanziell tragbares Konzept umzusetzen. Am 23. April wurde die Schulschließung zum Schuljahresende bekannt gegeben.

Trotz des immensen pädagogischen Einsatzes, den die Lehrer leisteten, ist zu fragen, ob das Kollegium zu tolerant und zu träge war gegenüber sich einschleichenden unguten Verhaltensweisen, die die eigenen Bedürfnisse, nicht jedoch die allgemeinen Notwendigkeiten der Schule berücksichtigten. Gegen diese Entwicklung hätte das Kollegium entschlossen und geschlossen vorgehen können und müssen. Zwar erhoben einige Kollegen mahnend das Wort, doch blieb es ohne Konsequenz und wurde nicht vom Gesamtkollegium aufgegriffen.

Noch immer wird versucht, das Unfassbare des Zusammenbruchs fassbar zu machen, die Komplexität dieses tragischen Ereignisses zu begreifen. In dem Versuch, die Geschehnisse, die zur Schließung der Schule führten, zu verstehen, bleibt immer ein Rest, ein Stück Unerklärbarkeit, warum es nicht gelang, diese Schule zu retten.

Zur Autorin: Franziska Cossham ist ehemalige Schülerin und Kollegin an der FWS Rendsburg.