Das Getrennte vereinen. Waldorflehrer tagen in Armenien

Lusine Harutyunyan

Die Initiative wurde von den Schulen in Tbilisi und Yerevan mit Begeisterung aufgenommen und die Verantwortung dessen Realisierung von beiden übernommen. Eine Arbeitsgruppe mit Mitgliedern der beiden Schulen erarbeiteten den Plan der zukünftigen Tagung, der später auch der IAO vorgestellt wurde, die den größten Teil der Finanzierung übernahm. Es wurde entschieden, dass die Tagung zwar in Armenien stattfinden wird, die georgische Kollegen sich aber mit als Gastgeber einbringen würden.

Die Tagung wurde für 22.-28.07.2016 geplant. Tatsächlich wurde das Treffen am Abend des 22. Juli in Anwesenheit der Kolleginnen und Kollegen aus den vier Ländern feierlich eröffnet und am 28.Juli mit einem gemeinsamen Ausflug beendet. Schon zwei Tage vor Tagungsbeginn nahm die Arbeitsgruppe der georgischen Kollegen sehr tatkräftig an den Vorbereitungen teil. Auch ein Teil der ukrainischen und russischen Kollegen kam einige Tage früher, was uns die Möglichkeit gab, noch vor der Tagung eine gute und vertraute Atmosphäre zu schaffen.

Der Arbeitsplan, der vor der Tagung intensiv diskutiert wurde, bewährte sich und konnte gut realisieren werden. Jeder Tag begann in einem Businesszentrum, wo Eltern und Freunde der Waldorfschule Yerevan für uns einen Konferenzsaal gemietet hatten, mit einem Vortrag von Michael Zech über die Herausforderungen der Zeit und die Aufgaben der Waldorfpädagogik. Dann folgte eine Kaffee- und Gesprächspause. Danach hatten wir an zwei Tagen die Vorträge der georgischen und ukrainischen Kollegen. Zuerst sprach Nato Oniani über den Unterricht über die georgischen Nationalgeschichte in der Oberstufe, dann Alexander Udod, der mit der ukrainischer Delegation eingeladen worden war, über Geschichtswissenschaft und die Ausbildung von Geschichtslehrern unter den Aspekten der Konsolidierung der Gesellschaft durch wissenschaftlich vielfältigen Diskurs und der Versöhnung der Völker.

An den folgenden drei Vormittagen waren für diese Zeit gemeinsame Diskussionen geplant, was auch sehr eindrücklich durchgeführt wurde. Die Themen waren zwar sehr provokativ, aber sie betrafen jeden einzelnen, und weil mit den Vorträgen von Michael Zech zur Waldorfpädagogik davor für alle die Grundlage für eine sehr vertraute Atmosphäre gelegt wurde, konnten die Teilnehmer zuletzt auch frei über die eigenen Schmerzen und Verletzungen sprechen. Da konnte man merken, wie nah sich eigentlich alle vier Völker in ihrem Schicksal waren. Nach diesen Aussprachen und nach einer Pause hielt Markus Osterrieder seine Vorträge über die Geschichte der Räume, die in den vier Himmelsrichtungen an unsere Völker angrenzen, wodurch uns wieder ihr gemeinsames und unterschiedliches Schicksal dieser Völker ins Bewusstsein kam.

An den Nachmittagen war die Arbeit in künstlerischen Gruppen vorgesehen. Die Teilnehmer sollten so arbeiten, dass die Ergebnisse am letzten Tag vorgestellt werden konnten. Das betraf jedoch nicht nur die künstlerischen Gruppen, sondern die in Gruppen vereinbarten zukünftigen gemeinsamen Schüler- und Lehrer-Initiativen. Und am Nachmittag des letzten Tages präsentierte tatsächlich jede Gruppe im Plenum ihr Arbeitsergebnis. Besonders die in den Gruppen geplante künftige Zusammenarbeit gehört zu den schönen Ergebnissen der Arbeit der Tagung. Sie sollen nun vorgestellt werden.

Die Entwicklung von Lehrer- und Schülerprojekten in Gruppen

1. Internationale Lehrerprojekte – Austausch, Hospitation, Gast-Unterricht

Die Gruppe hat vorgeschlagen alle Lehrer aus den Waldorfschulen der vier Länder, die bereit sind in einem Fach die Fortbildungskurse zu geben, auf einer gemeinsamen Website aufzulisten, damit jede Schule, wenn sie es nötig hat, die Möglichkeit hat, sie einzuladen oder um die Hilfe zu bitten. Der andere Vorschlag dieser Gruppe war, in einem der nächsten Jahren eine 14-tägige Tagung zu veranstalten, wo die allgemeine Menschenkunde, der methodisch-didaktische Kurs und die Seminarbesprechungen Steiners, so wie sie 1919 an der ersten Waldorfschule stattfanden, jeweils an einem Tag zu bearbeiten.

2. Gemeinsame Internetseite der Schüler bzw. gemeinsames Schülerjournal 

Innerhalb des kommenden Jahres eröffnet die Gruppe eine gemeinsame Internetseite, wo alle wichtigen Neuigkeiten der teilnehmenden Schulen, aber auch das, was die Schüler beitragen können, eingestellt wird. Die Arbeit daran hat schon begonnen.

3. Exkursionen im Kleinen und/ oder Großen Kaukasus

Die Gruppe hat den Entwurf für eine Reise ausgearbeitet: sie soll zuerst von den Lehrern, dann von den Schüler durchgeführt werden. Die erste Reise ist für Sommer 2017 geplant.

4. Theater-Projekte

Es gab zwei Projekte: ein Schülerprojekt und ein Lehrerprojekt. Die Gruppe hat für nächstes Jahr die Realisierung des Schülerprojekts als realistischer empfunden. Für die Schüler hat die Gruppe ein Sommerlager vorgeschlagen. Die Schüler, die gerne Theater spielen würden, können daran teilnehmen. Als Termin wurde der Sommer 2017 in Tbilisi ins Auge gefasst, damit die jungen Teilnehmer anschließend ihre Arbeit auch den Teilnehmern der erneut geplanten Lehrertagung zeigen könnten. Der Platz des Lagers soll  sich dann jedes Jahr ändern.  

5. Gemeinsame soziale Projekte (Baueinsätze etc.)

Die Gruppe hatte vor, bis Ende des Jahres 2016 Vorschläge für Sozialeinsätze zu sammeln, damit in einem der Teilnehmerländer die kleine Bauarbeiten dann im Sommer 2017 beginnen können. 

6. Schüleraustausch 

Die Gruppe hat vorgeschlagen, die Projekte anderer Gruppen zu unterstützen, weil diese schon so viele konkrete Schüler-Projekte geplant haben. Außerdem gibt es schon gute Erfahrungen der armenischen und georgischen Schulen einerseits und einiger russischer und ukrainischer Schulen anderseits, an die angeknüpft werden kann.

Die künstlerische Arbeit war ein besonders gut gelungenes und verbindendes Element der Zusammenkunft, da alle Teilnehmer mit Enthusiasmus und Freude mitmachten. Dies zeigten am vorletzten Abend die Ausstellungen bzw. Aufführungen. Die Malgruppen hatten eine schöne Ausstellung  im Flur der Schule aufgebaut. Die Abendvorführung begann mit einer Eurythmiedarbietung, ihr folgte die Tanzgruppe mit Volkstänzen aus den Ländern aller Teilnehmer. Als Krönung der künstlerischen Arbeit wurde die Theateraufführung erlebt. Nach der fünftägigen Arbeit wurde ein kleines Stück mit Chorgesang und schönem Spiel vorgeführt. Besonders interessant war auch die Arbeit der Gruppe »Schulhofgestaltung«. Sie hat Ihre Arbeit in den Projektskizzen vorgestellt. Obwohl das Projekt noch im Entwurfsstadium war, konnten den architektonischen Skizzen ganz konkrete Vorschläge entnommen werden, z.B. wie sich Lehrer und Schüler in einem Pavillon auf dem Schulgelände treffe könnten.

An den Abenden stellte sich jeweils ein Land den Anderen vor. Das ist in einer besonderen Art gelungen, denn jedes Land hatte seinen Stil und Inhalt mitgebracht. Am ersten Abend stellte die armenische Schule einige ihrer ehemaligen, heute im Beruf erfolgreichen Schüler vor. Sie sprachen über ihre aktuelle Arbeit oder ihr Studium. Damit wurde gezeigt, wie die Schule sich im sozialen Umfeld integriert hat.

Am zweiten Abend schenkten uns die Lehrer der georgischen Schule eine hervorragende Aufführung von Sophokles »Antigone«. Das war so schön, so ausdrücklich und so passend zu dem ganzen Thema, dass alle Teilnehmer bis in die Tiefen ihres Herzens berührt waren. Am dritten Abend waren die ukrainischen Kollegen dran. Sie berichteten zunächst über die Entwicklung ihrer Schulen erzählt und führten dann  ukrainische Volkstänze und Lieder auf. Nach und nach wurden dabei ihre russischen Kollegen aufgefordert, mitzumachen. Am vierten Abend erzählten die russischen Kollegen über ihre Schulen zeigten am Ende unter Teilnahme ihrer ukrainische Kollegen russische Lieder und Reigen (Chorowodi).

Am letzten Abend hielt vor den Aufführungen Ara Tonikyan, der ein großer Unterstützer der armenischen Waldorfschule und der anthroposophischen Arbeit ist einen Vortrag über die Herausforderungen der Zeit und die Aufgaben des postsowjetischen Menschen vom Gesichtspunkt der Anthroposophie aus.

Den letzten Skizzenstrich unserer Zusammenarbeit setzte dann der Ausflug zum Sevansee und dem dort auf einer Halbinsel liegenden armenischen Kloster. Die Waldorflehrer der vier Länder waren nicht mehr durch ihre verschiedenen Muttersprachen, Herkunftsorte oder gar politischen Meinungen getrennt, sondern begegneten sich als Lehrer, die für die Zukunft der Jugendlichen und damit überhaupt für die Zukunft Verantwortung übernehmen.

Die ganze Tagung forderte von jedem Teilnehmer waches Mitmachen und inneres Vertrauen. Am Ende der Tagung war allen klar, dass man sich unbedingt nochmal treffen soll, damit das, was jetzt eingepflanzt wurde, auch gepflegt wird, um später die richtige Früchte zu tragen.