Der Himmel auf Erden. Die »Carmina Burana« als integratives Tanzprojekt

Mathias Maurer

Das Junge Süddeutsche Jugendsinfonieorchester und das Vocalensemble Esslingen setzen mit dem gewaltigen »O Fortuna« der »Carmina Burana« von Carl Orff ein. Dreihundert Akteure sind auf der Bühne und führen ein integratives Tanzprojekt auf. Beteiligt sind die Bewohner der Christopherus Lebens- und Arbeitsgemeinschaft Laufenmühle, der Janusz-Korczak-Schule in Welzheim und der Albertville Realschule Winnenden, wo es 2009 zu dem entsetzlichen Amoklauf kam. Maria und Sven »tanzen« zu dem Lied »Sieh der Holde!« Sie drehen sich allein um sich selbst im Zentrum der riesigen Bühne, beide behindert und im Rollstuhl. Dann spielen sie alle mit, kranke Junge, gesunde Alte, Profitänzer und -musiker, Sopran-, Bariton- und Tenorsolisten, Fotografen und Dokumentarfilmer. Alle bereiteten sich monatelang auf die drei Aufführungen Anfang Juli vor, um ihr Projekt als soziales Gesamtkunstwerk auf die Bühne zu bringen, das insgesamt knapp 4.000 Menschen miterleben werden.

Erarbeitet wurde es unter der künstlerischen Leitung des Choreografen Wolfgang Stange. Er ist Gründer der international renommierten Amici Dance Theatre Company in London, die inklusive Tanzprojekte zur Aufführung bringt. Nicht weniger prominent mit dabei: Royston Maldoom, der durch sein Tanzprojekt zu Strawinskys »Le Sacre du Printemps« mit den Berliner Philharmonikern bekannt wurde, das als »Rhythm is it!« verfilmt für weltweites Aufsehen sorgte, Jo Ann Endicott, ehemalige Solotänzerin des legendären Wuppertaler Pina-Bausch-Ensembles und der Schauspieler Ferdinand Grözinger, bekannt als »Bienzle« aus dem »Tatort«. Für eine spektakuläre Beleuchtung der Aufführungen sorgte der Londoner Lichtdesigner Pete Ayres. Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann übernahm die Schirmherrschaft.

Die Idee hatte Dieter Einhäuser, Leiter der Lebensgemeinschaft Laufenmühle, schon vor vielen Jahren, als er die »Carmina Burana« mit Artistik von der Michael-Bauer-Schule beim »Stuttgarter Sommer« sah. Das jetzige Projekt mit Tanz schlug mit über 400.000 Euro zu Buche, die Dieter Einhäuser zusammen mit seinem Sohn Philipp durch Spenden und Eintrittsgelder nahezu wieder einspielte.

Es wirbelt eine Stunde in bunter Ausgelassenheit über die Bühne, mit führenden und geführten Händen zu den Liebes- und Trinkliedern der »Carmina Burana« im Wechsel mit den stillen Momenten der Sehnsucht nach Liebe, Begegnung, und Beziehung, die in allen Seelen wohnt. Herausragend die mongoloide Tänzerin Rosie vom Amici Dance Theatre; sie führt Behinderte und Nichtbehinderte gleichermaßen und lässt die Grenzen verschwimmen. Doch das Hauptgeschehen, die Inklusion fand nicht auf der Bühne, sondern in den Proben statt. Durch die Zusammenarbeit der Schulen seit dem Amoklauf in Winnenden – eine 850 Quadratmeter große Weidenkathedrale wurde damals gemeinsam erbaut – kannte man sich zwar schon, aber die Vorbehalte, mit Behinderten zu tanzen, waren enorm: »Den fass ich nicht an!«, war ein typischer Spruch. »Doch nach zwei Wochen gemeinsamen Probens wurde selbst der härteste Haudrauf-Typ weich und fürsorglich«, berichtet Einhäuser. »Das verstehe ich unter nachhaltiger Sozialarbeit«, fasst er diese Zusammenarbeit zusammen.

Der Engel steigt wieder auf. Die Mission ist angekommen – bei den Menschen auf der Bühne, bei den berührten Zuschauern auf der Tribüne. Ein Besucher sagte nach der Vorstellung:

»So muss man Inklusion erklären. Jetzt hab ich es verstanden!«