Die Middle East Side Story. Ein interkulturelles Musicalprojekt

Michael Birnthaler

Nicht »West Side Story«, sondern »Middle East Side Story«, denn das Stück spielt nicht im Westen, sondern im Osten. Die Schauspieler und Regisseure des Musicals stammen aus Galiläa – und sind Schülerinnen und Schüler der Waldorfschule Harduf und einer arabischen Schule; vier Schauspieler (Erzähler) sind von der Freien Waldorfschule Überlingen. Die »Brückenköpfe« dieses transnationalen Projektes waren auf galiläischer Seite Ya’akov Arnan und Faez Sawaed und auf deutscher Seite Ilse Wellershoff-Schuur (Pfarrerin der Christengemeinschaft Überlingen), Hjördis Lorenz und Heiner Schuur.

Seit der Gründung des Vereins »Tor zur Welt« vor 15 Jahren sind rund 300 junge Menschen nach Israel gekommen, um in zahlreichen Baucamps ein Begegnungszentrum sprichwörtlich aus dem Boden eines Waldgebietes zu stampfen. Theater- und Schauspielprojekte gehören dort seit einigen Jahren zu den Hauptattraktionen – in diesem Jahr eine unter die Haut gehende Inszenierung, die nicht nur den sozialen Sprengstoff jugendlicher Subkulturen der West Side-Schwester übernommen hat, sondern auch die Parallelwelt des politreligiösen Pulverfasses des Nahen Ostens thematisiert. In der ersten Szene stehen sich die Tschachtschachim, eine gepflegte und traditionsbewusste Clique, und die Underdogs der Wusswussim-Bande (die behaupten, die eigentlichen gottbestimmten Erben des Landes zu sein) unversöhnlich gegenüber. Zwischen beiden Straßengangs ein Abgrund des Hasses, ein Jahrhunderte alter vergifteter Streit. Die »Middle East Side Story« wird nicht gespielt, sie ist bis ins Mark treffend authentisch. Es stehen sich tatsächlich junge Menschen aus Galiläa gegenüber, einem Land, das wie kaum ein anderes von kulturellen und religiösen Grabenkämpfen zwischen Christen, Moslems, Drusen, Arabern und Juden gebeutelt wird. Sie sprechen, erzählen und singen nicht von einem fernen Land, sie sind Kinder dieses Landes und Opfer eines realen, unbeendbar scheinenden Kampfes zwischen den Kulturen und Religionen.

Als die Bosse der beiden Banden – »gespielt« von jungen Männern verfeindeter israelischer Kulturen – sich wegen des Mädchens Maria den Krieg schwören, gefriert dem Zuschauer das Blut in den Adern; er spürt, dass die Jugend­lichen ihr eigenes Lebensthema spielen; er wird mit hineingerissen und Zeuge für das Urbild aller Streitigkeiten, den Streit um das Heilige Land.

Keine der beiden Parteien will nachgeben. Es kommt zum unvermeidlichen Kampf. Zunächst mit bloßen Fäusten, dann mit Waffengewalt. Ein Messer kommt ins Spiel. Der Bruder des Mädchens wird erstochen. Rache wird geschworen: »Auge um Auge, Zahn um Zahn«. Auch der Geliebte des Mädchens muss sein Leben lassen. Am Ende stehen sich Maria und der Mörder gegenüber. Der Mörder übergibt überraschend dem Mädchen die Pistole, mit der er kurz zuvor ihren Geliebten erschossen hat. Die Zuschauer halten den Atem an. Maria hebt die Waffe und richtet sie auf den Mörder. Noch nie hat es hier etwas anderes gegeben als Auge um Auge und Zahn um Zahn. Das Gesetz der Wut, die Macht des Hasses und die Logik der Rache. Oder kann es noch etwas anderes geben? Es kann. Maria lässt die Waffe sinken und beugt sich über den leblosen Körper ihres Geliebten. In diesem Augenblick wacht der Mörder wie aus einem bösen Traum auf. Die bis aufs Blut verfeindeten Banden kommen zur Besinnung.

Die Jugendlichen haben dem Stück einen programmatischen Untertitel gegeben: »Wird die Liebe gewinnen?« Die 30 jungen Menschen, die in der letzten Szene auf der Bühne stehen, bejahen diese Frage. Stehende Ovationen dankten den Darstellern für diese leidenschaftliche Botschaft.

Leonard Bernstein hatte 1949 die Inspiration zur »West Side Story«. Ursprünglich sollte das Stück »East Side Story« heißen, in Israel spielen und vom Konflikt zwischen jüdischen und arabischen Gruppierungen handeln. Damals war die Zeit noch nicht reif dafür, heute ist sie es.

Zum Autor: Dr. Michael Birnthaler ist Leiter des EOS-Instituts in Freiburg (www.eos-ep.de)