Die Weltsicht der Anderen

Rolf-Michael Ansorg

Ein Besuch im Berliner Schloss Bellevue mit Händeschütteln, Fernsehinterview und Buffet – das ist etwas, das die Schülerinnen und Schüler des Heilpädagogischen Förderzentrums Friedrichshulde ihren Lebtag nicht vergessen werden. Die 9. Klasse gehörte zu den Preisträgern des siebten großen Schulwettbewerbs des Bundespräsidenten zur Entwicklungspolitik »Alle für eine Welt – Eine Welt für alle«. Er stand unter dem überaus passenden Motto »Umgang mit Vielfalt: Unterschiede verbinden – gemeinsam, einzigartig«.

Kinder und Jugendliche aller Schulformen waren aufgerufen, die Welt von ganz unterschiedlichen Gesichtspunkten zu betrachten und zu verstehen, wie Menschen in anderen Ländern denken, fühlen und handeln. Wie leben wir in unserer Welt miteinander zusammen? Wie erlangen wir ein tiefes Verständnis des anderen Menschen? Auseinandersetzungen, Streitereien, Kampf und Krieg beruhen meistens auf der mangelnden Fähigkeit, sich in andere Denkstrukturen, Lebensgewohnheiten und einen anderen Glauben hineinzuversetzen.

Die Aufgabe des Schulwettbewerbs war es, Unterschiede in der Welt von verschiedenen Standpunkten aus zu betrachten und auf künstlerische Weise zu einem einzigartigen Ganzen zu verbinden. Mir war klar: Dieses Thema berührt uns alle. In meiner 9. Klasse des Heilpädagogischen Förderzentrums Friedrichshulde in der Nähe von Hamburg sind Schülerinnen und Schüler mit ganz unterschiedlichen Stärken und Schwächen vereint. Einige Schüler haben aufgrund frühkindlicher Traumata eine gravierende Bindungsstörung. Sie sind nicht in der Lage, Beziehungen aufzubauen. Auch habe ich Schüler, die emotional nur auf sich fixiert sind und nicht verstehen, dass andere Menschen anders sind als sie selbst.

Seit sechs Monaten geht ein Schüler afrikanischer Abstammung in meine Klasse. Viele Jugendliche hatten große Mühe, ihn in seiner Andersartigkeit zu akzeptieren. Vor diesem Hintergrund beschäftigte mich die Frage: Wie kann ich meinen Schülern den inneren Blick für das unbekannte, fremde Leben anderer Menschen weiten? Im tagtäglichen Miteinander werden sie immer wieder mit den Eigenarten und dem Anderssein ihrer Klassenkameraden konfrontiert. Sie sehen sich selber, ihre eigene Beeinträchtigung, ihre Unvollkommenheit im Mittelpunkt des Weltgeschehens und können es nicht begreifen, dass andere Menschen anders sind als sie selbst.

Die Ursachen vieler Konflikte, die die Schüler untereinander auszutragen haben, liegen an dem fehlenden Verständnis und der mangelnden Bereitschaft, sich in die Andersartigkeit fremder Verhaltensweisen hineinzudenken.

Ein kulturelles Paket wird geschnürt

Als ich der Klasse meine Gedanken und Ideen zu dem Schulwettbewerb vorstellte, hielt sich die Begeisterung sehr in Grenzen. »So etwas schaffen wir doch nie«, oder noch deutlicher: »Wir wollen an keinem Wettbewerb teilnehmen! Wir wollen nicht mit anderen Schulen oder Klassen verglichen werden!« Als die Resonanz innerhalb des Kollegiums verhalten ausfiel, fing ich einfach – ohne weitere Worte zu verlieren – mit der Arbeit an. Den Schülern gegenüber hütete ich mich, noch einmal den Ausdruck »Schulwettbewerb« in den Mund zu nehmen.

Im Rahmen einer großen Epoche, die sich über drei Monate erstreckte, tauchten wir in die unterschiedlichen und für die Schüler fremden und unbekannten Welten der drei großen Weltreligionen Islam, Judentum und Christentum ein. Wir besuchten eine Moschee, eine Synagoge und eine Kirche, wir lernten die unterschiedlichen Sitten und Bräuche kennen und wir erkannten, dass Menschen anderer Glaubensrichtungen auch in ihrem Denken ganz anders strukturiert sind als wir. Mit Texten, Bildern und Zeichnungen erstellten wir Arbeitshefte, die den Unterrichtsverlauf wiedergaben. Die Klasse rezitierte die »Karawane« von Hugo Ball (1912), ein reines Lautgedicht, den ersten Schöpfungstag aus der Thora in hebräischer und deutscher Sprache und die ersten Verse aus dem Johannesevangelium. Ferner stellten wir in einem Kunstprojekt einen Teppich mit den Wörtern: Frieden, Sonne, Mond und Erde in arabischer Schrift in Filztechnik her. Zum Schluss wurden alle Erfahrungen in einem Fotobuch dokumentiert und der Sprechchor auf einem Video aufgezeichnet.

Da die Schüler aufgrund ihrer Beeinträchtigungen es sehr schwer hatten, eigene Gedanken zu formulieren und aufzuschreiben, näherten wir uns diesem Thema über die Kunst (den Teppich) und über die Sprache. Jeder Schüler hat sich auf seine Weise, seinen Möglichkeiten entsprechend mit unserem Projekt auseinandergesetzt. Es waren zum Beispiel zwei Schüler nicht in der Lage, im Chor der Klasse mitzusprechen.

Trotzdem wurden sie von der Klasse mitgetragen und hatten so die Möglichkeit, die Inhalte auf einer anderen Ebene wahrzunehmen. E. wiederum, die durch ihre starke Mehrfachbehinderung kaum in der Lage war, sich in praktischer Weise an den Tätigkeiten zu beteiligen, verstand aber viele Zusammenhänge und konnte die Texte fast alle auswendig sprechen. Als wir dann schließlich alle Arbeiten zusammengetragen hatten und auch der Teppich fertig gestellt war, waren alle anfänglichen Zweifel verflogen und ich durfte ein großes Paket zur Jury nach Bonn schicken.

Gewonnen – zum Bundespräsidenten nach Berlin

Zwei Monate später kam der überraschende Anruf: Wir gehören zu den Preisträgern und dürfen nach Berlin in das Schloss Bellevue fahren. Der Jubel unter den Schülern und im Kollegium war unbeschreiblich. »Wir, die wir ja immer nur im Schatten der Gesellschaft leben, die es so schwer haben von Gleichaltrigen in unserem Anderssein anerkannt zu werden, sind zum Bundespräsidenten eingeladen worden?« Wir konnten es nicht fassen. Als das Filmteam kam, um über unser Projekt eine Dokumentation zu drehen, konnte ich meine Klasse nicht wiedererkennen: Fünf Stunden haben die Kinder, die sich sonst schnell ablenken lassen, konzentriert mitgearbeitet. Zwei Schüler ließen sich sogar interviewen (siehe Link).

In vielerlei Hinsicht war die Reise nach Berlin ein einzigartiges Erlebnis: 21 Schulklassen aus der ganzen Bundesrepublik gehörten zu den Preisträgern. Wir waren die einzige Förderschule. Wir wurden aufgrund unserer Arbeit geehrt und standen in einer Reihe mit Gymnasien, Haupt-, Real- und Berufsschulen. In diesem Alter sind die Schüler in verstärktem Maße mit ihrem eigenen Handicap konfrontiert. Hier aber vergaßen sie ihre Behinderung und genossen es, einmal »normal« sein zu dürfen.

Viele Schüler hatten in ihrem Leben noch nie ein so üppiges Buffet erlebt. Dieser Eindruck hat einen Jungen so gefesselt, dass er nur über diese Speisen einen zweiseitigen Aufsatz schrieb. Es waren großartige Erlebnisse, die in den Schülern einen tiefen Eindruck hinterlassen haben und die sie ihr Leben lang begleiten werden.

Zum Autor: Rolf-Michael Ansorg arbeitet seit dreißig Jahren als heilpädagogischer Klassenlehrer und unterrichtet zur Zeit die 10. Klasse am heilpädagogischen Förderzentrum in Friedrichshulde.

https://www.youtube.com/watch?v=VYmQ487tJt4