Eher Zweifel an der Praxis

P. Gelitz, I. Baumgärtner-Schweizer, L. Möckel, E. R. Yapca, A. Sonntag

Ein Lehrforschungsprojekt von sechs Studierenden im Master-Studiengang Pädagogische Praxisforschung an der Alanus Hochschule in Alfter untersuchte das Verhältnis zwischen Anthroposophie-Verständnis und waldorfpädagogischer Praxis bei tätigen Waldorfpädagogen. Ergebnis: Die Anthroposophie hat eine höhere Bedeutung als vermutet.

Im vierten und fünften Semester des Studiengangs Pädagogische Praxisforschung an der Alanus Hochschule steht die Planung und Durchführung einer empirischen Studie auf dem Programm. Das aufwendige Projekt findet jedes Jahr mit der Vorlage eines umfangreichen Forschungsberichts und einer Präsentation der Ergebnisse vor den Lehrkräften und Kommilitonen seinen Abschluss. In einer der beiden dieses Jahr vorgestellten Studien wurde der Forschungsfrage nachgegangen: »In welchem Verhältnis steht das persönliche Anthroposophie-Verständnis zur eigenen waldorfpädagogischen Praxis?« Das Thema schien für Waldorfpädagogen insofern von Interesse zu sein, da die Verbindung zum Gründer Rudolf Steiner und zu anthroposophischen Inhalten stets persönlich geprägt ist und die tägliche pädagogische Praxis immer auch eine Auseinandersetzung mit dieser persönlichen Verbindung bedeutet.

Um die Forschungsfrage beantworten zu können, wurden zwei Interviews geführt, eine Internetseite analysiert und ein Fragebogen mit einem hohen Rücklauf von 502 Teilnehmenden ausgewertet. Dies ist zwar einerseits recht umfangreich, da es sich aber um eine Zufallsstichprobe gehandelt hat, kann die Untersuchung nicht als repräsentativ gelten. Ziel der verschiedenen Erhebungsmethoden und der damit verbundenen unterschiedlichen Auswertungsverfahren war es, sowohl einzelne individuelle Zugänge zum Verhältnis von Anthroposophie und Waldorfpädagogik herauszuarbeiten als auch allgemeine statistische Aussagen zu treffen.

Um die Forschungsfrage angemessen beantworten zu können, schien es uns ratsam, zu fragen,

  • auf welche Grundlagen sich Waldorfpädagogen stützen,
  • wie ihr Zugang zu Rudolf Steiner aussieht und
  • wie sich ihr Erlebnis von Diskrepanzen darstellt.

Unter diesem Fokus betrachteten wir unsere erhobenen Daten. Die wichtigsten Ergebnisse lauteten dabei:

  • Waldorfpädagogen stützen ihre Arbeit lieber auf waldorfpädagogische Sekundärliteratur in Zeitschriften und Büchern als auf Texte Rudolf Steiners und dezidiert anthroposophische Literatur. Gleichzeitig werden der Anthroposophie und Rudolf Steiner aber eine überragende Bedeutung zugeschrieben und eine Verehrung entgegengebracht, die in dieser Deutlichkeit nicht erwartet worden war.
  • Die Analyse der Interviews und der Internetseite zeigt sehr klar, wie hoch der eigene Anspruch ist und wie stark theoretische Programme, die sich aus anthroposophischen Überlegungen und Äußerungen Steiners ableiten, die eigene Verortung zwischen Theorie und Praxis prägen.
  • Die befragten Waldorfpädagogen besuchen zudem lieber Fortbildungen als Arbeitskreise und Tagungen.
  • Fast die Hälfte der Befragten erlebt eine Diskrepanz zwischen anthroposophischen Idealen und der täglichen Arbeit. Es zweifeln jedoch nur wenige an der Anthroposophie und deutlich mehr Befragte an der waldorfpädagogischen Praxis.

Die entsprechenden Items des Fragebogens lauteten hier:

  • Ich erlebe eine Diskrepanz zwischen meinen anthroposophischen Idealen und meiner täglichen pädagogischen Arbeit. (43,9 % gaben an, dass dies zutrifft.)
  • Ich zweifle immer mal wieder an der Anthroposophie. (20,9 % Zustimmung)
  • Ich zweifle immer mal wieder an der gelebten waldorfpädagogischen Praxis. (49,0 % Zustimmung)

Die Art der Aussagen in den Interviews und auf der analysierten Internetseite lassen allerdings den Schluss zu, dass eine Diskrepanz zwischen Überzeugungen und täglicher Praxis de facto fast überall vorhanden ist, auch wenn sie nicht als solche erlebt oder benannt wird.

Der Umgang mit Diskrepanzen scheint sehr unterschiedlich zu sein. Hier konnten wir mit unseren Fragen nach Zugängen zur Waldorfpädagogik, zur Anthroposophie und zum persönlichen Erleben keine eindeutigen Antworten feststellen. Die Beschäftigung mit Steiner und der Anthroposophie beeinflusst den Umgang mit Diskrepanzen jedenfalls nicht.

In Bezug auf die individuelle Verortung zum genannten Spannungsfeld konnten wir sowohl missionarischen Eifer für die Anthroposophie und stark einengende Sichtweisen ausmachen als auch einen kritisch-reflektierten Zugang.

Die Ergebnisse lassen unserer Ansicht nach den Schluss zu, dass

  • der Anthroposophie eine große Kraft zugesprochen wird,
  • Rudolf Steiner als enorm bedeutsam erlebt wird,
  • der Rückzug auf theoretische Programme recht hoch ist,
  • der hohe Anspruch von Waldorfpädagogen an sich selbst problematisch ist,
  • eine Diskrepanz zwischen Anthroposophie und waldorfpädagogischer Praxis vorhanden ist.

Erfreulich war die rege Teilnahme von Waldorfschulen, Waldorfkindergärten und -krippen an der Fragebogenerhebung, was den Ergebnissen zu einer guten Aussagekraft verhalf.  Interessanterweise antworteten die Fachkräfte in Kindergärten und Schulen und auch Männer und Frauen über alle Fragen hinweg annähernd gleich, was bedeutet, dass mit den Fragestellungen grundsätzliche Einstellungen erfasst werden konnten, die nicht schul- oder kindergartenspezifisch oder gar geschlechtsabhängig ist. Es bleibt festzuhalten, dass wir mit der vorgelegten Studie einen empirischen Schritt in das zu erforschende Verhältnis von Anthroposophie und Waldorfpädagogik hineingewagt haben. Dem theoretischen Diskurs können somit ein paar mehr Fakten zur Seite gestellt werden. Die Befunde sind unserer Auffassung nach als Ausgangspunkt für eine mögliche Vertiefung der Thematik in nachfolgenden Forschungen geeignet.

alanus.edu