Ein Farbkreis für die Schule

Hermann Dölger

Die Pandemie hat die Sozialpraktika der Schüler der elften Klasse komplett verhindert. In den Wochen vor dem Termin stand die Aufgabe im Raum, die vakante Zeit mit einem Unterrichtsangebot sinnvoll zu nutzen. So ergab sich das Zeitfenster für ein ganzheitliches Projekt, das die Farbe mit ihren verschiedenen Facetten in den Fokus rückte.

Bereits zuvor war es mir ein Anliegen, die Flure und Treppenhäuser durch gestalterische Eingriffe zu beleben und pädagogisch einzusetzen – durch Gestaltungen, die positiv auf ihre Betrachter wirken, einstimmen auf Neues und den Sehsinn ansprechen.

Die Treppenhäuser, teilweise mit angefangenen Wandbildern, boten sich hier besonders an; ich hatte Schülern der Klasse angeboten, gemeinsam ein Projekt durchzuführen, das auch eine abschlussrelevante CSE-Leistung werden konnte. Mit dem Ausfall des Praktikums bot sich nun die Möglichkeit, das Projekt mit der ganzen Klasse anzugehen. Fachübergreifend stießen der Eurythmie-Lehrer (Farbe und Planetenqualitäten), die Musiklehrerin und die Physiklehrerin (Optik) hinzu. So entstand für die 11. Klasse kurzfristig ein besonderer Stundenplan für diese drei Wochen mit einem spezifischen Thema.

Was ist Farbe? Ein Reiz für unsere Augen. Ein Ausdruck von Empfindung und Leben. Eine Erscheinung, die uns unmittelbar seelisch und emotional beeinflusst. Eine geistige Essenz, die über sich hinaus auf anderes weist. Ein Phänomen, das physikalisch Wellencharakter hat. Ein Kommunikationsmittel und Signal. Das eigentliche Material der Malerei. Ein Pulver, das man auf Untergründe auftragen kann. Nach Goethe: die Taten und Leiden des Lichts.

Wenn der eine oder andere dieser Aspekte in den Schülerseelen in Bewegung oder zum Bewusstsein kommen könnte, wäre der Zweck des Projekts erfüllt. Die drei Wochen sollten als Ergebnis auch drei gestaltete Wände im Schulhaus hervorbringen. Diese Gestaltungen mussten wir zunächst entwerfen. Da die Stirnwände der Treppen­häuser quadratische Proportionen haben, bot es sich an, diese mit Farbkreisen zu gestalten, um eine klare Gestalt und eingrenzende Thematik zu haben – diese Vorgabe war also gesetzt. Nun muss man sich aber nicht vorstellen, dass ein Farbkreis eine festgelegte Form ist – das kann man an mehreren Studien sehen, die vornehmlich am Anfang des 20 Jahrhunderts entstanden – von Künstlern, die Wegbereiter der abstrakten Malerei waren: Robert Delaunay, Hilma af Klint oder August Macke; diese Künstler fanden zu individuellen Interpretationen bei ihren Gestaltungen von Farbkreisen. Diese Idee galt es nun, für die 11. Klasse zu verfolgen und individuelle Farbkreise für die Schule zu gestalten. Das machte die Aufgabe zu einer kreativen Herausforderung und erforderte Erfindergeist.

Parallel arbeitete die Musiklehrerin mit den Schülern in synästhetischen Versuchen an der gestalterischen »Übersetzung« von Klängen ins Bildnerische – vom Klavier über das Herz hinein in die Farbe. Synästhesie ist das Prinzip, Sinneseindrücke aus einem Sinnesbereich in ein anderes Wahrnehmungsfeld zu übersetzen. Das stellte für alle eine neue Herausforderung dar, ohne Leitlinien und Vorgaben drauf los zu gestalten.

Es war auch eine Forschungsarbeit mit dem Ziel, zu erkennen, wie subjektiv oder kollektiv unser musikalisches Erleben ist – und es zeigte sich, dass man sich verständigen konnte über die auslösenden Qualitäten eines Eindrucks und warum man diese oder jene Farbe wählte; es gibt zwischen Objektivität und Subjektivität eine Qualität des Interpersonalen – viele Menschen erleben einen Sinneseindruck ähnlich und würden ähnlich reagieren. Der Austausch über die gehörten Eindrücke wird durch die bildnerischen Versuche vertieft und differenziert. So kann man zum Beispiel feststellen, dass ein Klang dunkel ist und durch die Art, wie er angeschlagen wird oder in welchem Zusammenhang er steht, verschieden farbig ausgedrückt werden müsste – so differenziert sich sowohl das Musik- wie auch das Farberleben.

Auch die Entwürfe für die Farbkreise wurden in gemeinsamen Betrachtungen besprochen und Kriterien formuliert, um diese zu beurteilen; am Ende votierten die Schüler für die spannendsten Vorschläge, so kamen wir zu guten Vorlagen nach Ideen der Schüler.

Die Wände unserer Treppenhäuser haben stattliche Größen: 16 und neun Quadratmeter! Im ersten Fall so groß, dass man sie gar nicht ohne ein stabiles Baugerüst gestalten konnte. Eine weitere praktische Herausforderung war die »Konsistenz« der Wände mit ihrem Aufbau aus mehrfach übermalten, mehr oder weniger sperrenden oder feucht-saugenden Schichten. Wir erprobten als kostengünstige Methode das Malen mit gebundenen Pigmenten oder durch Acrylbinder wasserfest auftrocknender Gouachefarbe. Eine glatte, gleichmäßige oder gleich­mäßig übergehende Farbfläche zu erzielen, war schwer und musste an manchen Flächen mehrfach versucht werden – durch Überweißen und Neuversuch; auch ich selbst habe diverse Flächen mehrfach übermalen müssen. Die Schüler kamen mit der Technik verschieden gut klar und trauten sich z.T. nicht alle Tätigkeiten zu; so  kamen wir zu einer sinnvollen Aufgabenverteilung am Arbeitsplatz mit verteilten Schwerpunkten beim Zuarbeiten und Ausführen.

Die Zeitplanung – mit einem geplanten Abschluss vor den Pfingstferien – erschien anfangs ambitoniert, aber durch einen zwischenzeitlich lahmenden Entwurfsprozess gerieten wir doch noch ins Gedränge. Gleich einem Schauspiel-Probenprozess – mit langem Anlauf und echtem Flow erst kurz vor der Premiere – verbrachten wir in den letzten Tagen viel Zeit auf und am Gerüst – bis zu sechs Stunden, und der Lehrer noch darüber hinaus. Solche Art Projekte sind nicht komplett vorhersehbar, in der Regel startet man ohne Gewissheit über Verlauf und Ausgang. Die Ziele des Projekts haben wir komplett erreicht: mit einer wirkungsvollen Gestaltung unseren Lebensraum Schule zu bereichern, selbst vielgestaltig in die Welt der Farben einzutauchen und eine Sache von der Planung bis zum fertigen Ergebnis auszuführen. Das stärkt diejenigen, die es vollbracht haben.

Inzwischen ist auch der zweite Farbkreis fertig geworden – mit einem ganz anderen, heiteren Duktus und für seine helle Wand farbenfroh und hell gestaltet.

Entstanden sind großzügige, raumgreifende, differenzierte und farbsatte Wandgestaltung. Es ist keine offensichtliche Schematik darin – nichts, was logische, vorhersehbare Strukturen vorführt, was man intellektuell verstehen und damit abhaken kann; es hat durch die Scheibenform etwas Einheitliches, ohne einfach zu sein; es nähert sich künstlerischer Gestaltung. Die Mitwirkenden haben ein gutes Stück wirkungsvoller Arbeit geleistet und können stolz darauf sein. Wir hoffen auf eine positive Wirkung der Gestaltung auf ihre Betrachter und Passanten. Und dass es schlicht gefallen möge.

Zum Autor: Hermann Dölger ist Kunstlehrer an der Freien Waldorfschule Crailsheim.