Eine Pionierin der Waldorfpädagogik: Caroline von Heydebrand

Tomás Zdrazil

Von Heydebrand stammte aus einer schlesischen Adelsfamilie und brachte eine außerordentlich gründliche, allgemeine, klassische wie anthroposophische Bildung mit profunden Sprachkenntnissen mit. Rudolf Steiner vertraute ihr die fünfte Klasse an – die größte mit 47 Schülern. Durch ihren zarten Körperbau waren einige Fünftklässler so groß wie sie. Ihre Stimme war so fein und hoch, dass sie sich zunächst nur mühsam als Lehrerin durchsetzen konnte. In ihrer Klasse saßen Kinder aus allen damaligen Schulformen nebeneinander, ehemalige Volksschüler neben Gymnasiasten, Kinder der Waldorf-Astoria-Arbeiter neben Felix Goll, dem Adoptivsohn des reichen Fabrikanten und Schulgründers Emil Molt – eine für damalige Verhältnisse unerhörte Sache! Am Anfang des Schuljahres fehlte das Schulmobiliar und die Schüler saßen auf den vom Restaurant zurückgebliebenen Stühlen, die auf dem glatten Boden leicht rutschten. Man kann sich kaum schwerere Ausgangsbedingungen für eine junge Anfängerin ohne Pädagogik-Studium und Unterrichtserfahrung vorstellen.

Doch von Heydebrand packte die Herausforderung mit der ihr eigenen Intensität, Zielstrebigkeit und künstlerischem Talent an. Sie führte in die griechische Kultur mit ihren Mythen und ihrem Ausdruck in der bildenden Kunst ein. Sie erzählte Götter- und Heldensagen und ließ die Kinder dazu griechische Motive zeichnen. Dadurch gelang es ihr, die von ihren Schülern »Fräulein Doktor« genannt wurde, schnell, deren Interesse und Herzen zu gewinnen. Die großen Defizite und Leistungsdifferenzen im Deutsch- und im Rechenunterricht der Schüler waren für sie eine besondere methodische Herausforderung. Sie beherrschte dank ihrer mehr als soliden Allgemeinbildung und disziplinierten Vorbereitung souverän den Unterrichtsstoff, durchdrang ihn stark mit Phantasie, übte mit der Klasse konsequent und kam gut voran. Sie begleitete ihre Überlegungen und Planungen auch immer mit feinfühligen Beobachtungen an den Kindern. Sehr früh und differenziert reflektierte sie auch in kleinen Veröffentlichungen ihre pädagogische Praxis. Steiners Eindrücke aus ihrem Unterricht veranlassten ihn mehrmals, sie in seinen Vorträgen lobend als Beispiel für einen besonders produktiven Umgang mit der Anthroposophie in der neuen Didaktik und Pädagogik zu erwähnen. Sie begleitete ihn regelmäßig auf seinen Vortragsreisen nach England, in ihre zweite Heimat.

Von Heydebrand wurde zu einer Meisterin der neuen Erziehungskunst und weihte ihr Leben ganz dem Dienst dieser Pädagogik. Sie schrieb eine Fülle von künstlerischen Texten für den Unterricht, stellte Lesebücher zusammen, redigierte eine erste waldorfpädagogische Zeitschrift, schrieb pädagogische Betrachtungen, hielt Vorträge, bildete neue Lehrer aus. Sie befasste sich auf Anregung Steiners auch mit dem damals akademisch dominierenden Ansatz einer experimentellen Pädagogik und führte aus, wie sehr er das Kind auf ein rational und kognitiv veranlagtes Wesen reduziert und wie wenig er zu einer gesunden lebendigen Unterrichtspraxis beitragen kann. Drei Klassengemeinschaften kamen in den Genuss, sie als Klassenlehrerin zu erleben. Gesundheitliche Probleme, steigender politischer Druck und interne kollegiale Spannungen zwangen sie, 1935 die Stuttgarter Schule zu verlassen. Von Heydebrand starb im Sommer 1938, nachdem die Stuttgarter Schule von den Nationalsozialisten geschlossen und ihre Schriften verboten wurden. Dank ihres pädagogischen und schriftstellerischen Werkes verdient sie wie nur wenige die Bezeichnung »Pionierin der Waldorfpädagogik«.