Eine Waldorfschule für alle

Monique Brinson, Ida Oberman

Es gibt kaum ein Thema, das unsere Zeit so stark prägt, wie die wachsende Vielfalt: lokal, landesweit, national und global. Allein in den Vereinigten Staaten sind mehr als die Hälfte aller Neugeborenen von nicht-weißer Hautfarbe (people of color). Im Jahr 2030 wird die Mehrheit der jungen Arbeitnehmer nicht weiß sein und 2044 die Bevölkerung aus einer Mehrheit nicht-weißer Menschen bestehen.

Die Vorteile der Vielfalt (diversity) werden immer deutlicher. Sie ist für alle, die unter ihrem Einfluss leben, ein Gewinn. Die Hirnforschung zeigt, was viele intuitiv gewusst haben: Vielfalt fördert kognitive Flexibilität mit der Fähigkeit zu Innovation, Anpassung und Integration. Doch trotz der wachsenden Vielfalt und der zunehmenden Anerkennung nimmt die (Rassen-)Segregation zu. In den Vereinigten Staaten sind wir stärker segregiert als vor 65 Jahren. Die Frage ist, wo sind die vielversprechenden Praktiken, die es mit dieser Herausforderung aufnehmen können? Die Waldorfpädagogik ist dafür ein Beispiel.

Die Gemeinschaftsschule für kreative Erziehung

Die Community School for Creative Education (CSCE) entstand 2007 als Stadtteil-Initiative. Aus dieser Initiative heraus untersuchten Eltern vor Ort, die Arbeit von Waldorfschulen und leistungsstarken Schulen in armen Wohngegenden in den tiefer gelegenen Gebieten Oaklands (»flatlands«) und kamen zu der Entscheidung, Oakland braucht eine Waldorfschule. Nach drei Jahren Planung war die erste interkulturelle, städtische, öffentliche Waldorfschule des Landes geboren.

Der Weg dahin war nicht leicht. Ihre Gründung wurde zweimal vom Bezirk abgelehnt und einmal von den Verantwortlichen des Bezirksbüros für Erziehungsfragen zur Ablehnung empfohlen. Schließlich wurde sie in einer überraschenden Wendung von einem Beiratsmitglied genehmigt, das davon überzeugt war, dass der Waldorfpädagogik in der ärmeren Wohngegend eine Chance gegeben werden sollte. Die Genehmigung war ein Beispiel für die Bedeutung nachbarschaftlichen Engagements. Bei den öffentlichen Anhörungen traten Menschen mit zweiundfünfzig unterschiedlichen Sprachen, Hintergründen und Rollen auf, um die Initiative zu unterstützen. All das geschah vor einem Jahrzehnt.

Heute besteht die CSCE aus einem Übergangskindergarten und Schulklassen bis zum achten Jahrgang. Sie betreut 283 Schülerinnen und Schüler. Im von Vielfalt geprägten Oakland gehört sie zu den vielfältigsten Schulen. Die Schülerschaft setzt sich wie folgt zusammen: 48 Prozent lernen Englisch als Nichtmuttersprachler, 15 Prozent – mehr als das Doppelte der durchschnittlichen Charterschule und höher als der Durchschnitt im Distrikt – haben Anspruch auf Sonderpädagogik, 82 Prozent stammen aus einkommensschwachen Familien. Die Schülerschaft ist ethnisch breit gefächert: 62 Prozent Lateinamerikaner, 18 Prozent Afroamerikaner, zehn Prozent asiatisch-amerikanische oder pazifische Inselbewohner, vier Prozent Kaukasier, drei Prozent Ureinwohner und drei Prozent multirassisch (»multiracial«).

Die CSCE bietet tägliche psychosoziale Dienste und kostenlose Aktivitäten über den ganzen Tag bis 18 Uhr, eine tägliche Essensausgabe und eine Sommerferienschule an. Der ganztägige Unterricht wird durch Nachmittagsprogramme ergänzt. Ein charakteristisches Merkmal der Schule ist die breite Vernetzung in der Nachbarschaft, ja, sie dient als Knotenpunkt aller Gemeindeaktivitäten; sie ist nicht abgesondert oder beziehungslos.

Unsere Nachbarschaft, ihr Reichtum und ihre Herausforderungen

Wir leben in einer Stadtgemeinde, die zu den kulturell lebendigsten in Oakland gehört. Vietnamesische, mexikanische und kambodschanische Restaurants buhlen um Gäste. Kunst aus verschiedenen Kulturen und Religionen schmückt die Mauern der Umgebung und schwebt als Musik durch die Luft. Im Gegensatz dazu ist der Distrikt auch für Menschenhandel, Drogen und Gewaltverbrechen bekannt, deren Rate viermal so hoch ist wie die des Bundesstaates Kalifornien und in unserem Viertel nochmals um ein Drittel höher liegt als in der Stadt selbst.

Drei Säulen der Gemeinschaftsschule

Die Gemeinschaftsschule ruht auf drei Pfeilern: unserer Nachbarschaft, unserem von Waldorfpädagogik inspirierten, an Standards orientierten und auf Gerechtigkeit ausgerichteten Programm, das auf dem Fundament der Künste basiert, und unserer Forschung und Bildung für Erwachsene. Zu den Früchten, die wir in dieser frühen Phase ernteten, gehören in erster Linie unsere Schüler, dann unsere Familien und schließlich unsere akademischen Errungenschaften.

Unsere Gemeinschaft lebt innerhalb und außerhalb der Mauern unserer Schule. Das Jahr ist angefüllt mit Festen, vom Tag des Kleinkindes über das Fest des Neujahrsmondes, den Geburtstag des Propheten Mohammed bis hin zum Monat der Geschichte der Farbigen. Zu jedem Fest kommen Familien zusammen, um Essen zu bringen, zu feiern, zu dekorieren, zu teilen, Geschichten aus der Kultur des anderen zu hören, zu lernen und die Lieblingsspeisen des anderen zu kochen.

Diese Integration geschieht nicht von selbst. Sie beruht auf der ständigen Vertrauensarbeit mit den Erwachsenen. Das Leben außerhalb der Schule ist von Spannungen zwischen ethnischen Gruppen und sozialen Schichten gekennzeichnet. Das Diktum »es braucht ein Dorf, um ein Kind zu erziehen« ist wohlbekannt. In der Community School gilt das Motto: »Es braucht ein Kind, um ein Dorf zu erziehen.« Diese Gruppen kommen alle an unserer Schule zusammen und im Mittelpunkt steht das, was für alle das Kostbarste auf der Welt ist: Ihr Kind! Dadurch schließen sie sich auf eine neue Weise  auf und zusammen. Dies geschieht nicht ohne Anstrengung. Aber die Schule setzt geau an diesem Punkt an.

So beginnen die Lehrer zum Beispiel ihre erste Konferenz im Herbst mit einer Übung, die auf dem Gedicht »Wo bin ich her?« von George Ella Lyaon basiert, um ihre eigene Biographie zu schildern. Die Schüler der ersten Klasse schreiben auch ein kurzes »Wo bin ich her«-Gedicht und diese werden alle an die Wand gehängt.

Beim ersten Elternabend der ersten Klasse fragt der Lehrer die Eltern: »Was ist Ihre größte Hoffung für Ihr Kind? Und was ist ihre größte Sorge? Der eine sagt: »Zugang zu einer guten Hochschule«, der andere sagt: »Dass es nicht erschossen wird.« Nun sitzen sie beisammen und beginnen den gemeinsamen Weg mit ihren Kindern. Das kommt auch in den Worten von zwei Müttern zum Ausdruck: »Unsere Kinder hätten sich nie kennengelernt; und auch wir hätten uns nie kennengelernt, ohne die Community School: Zusammen sind wir alle stärker.« Das Grundprinzip von Waldorfpädgogik ist Beziehung.

Letztes Jahr gab es eine Schießerei mit tödlichem Ausgang vor der Schule. Die Schule musste geschlossen werden und einige Stunden lang konnten die Eltern die Kinder nicht abholen, und als es ging, nur  unter Polizeischutz. Kinder und Lehrer sangen, spielten,  erzählten Geschichten und bastelten zusammen. Die Größeren setzten sich zu den Kleinen. Das Trauma-Team kümmerte sich um die Kinder, die besonders Angst hatten. Alle Eltern wurden in allen Sprachen angerufen, dass ihre Kinder wohlauf und gesund seien. Die Polizei berichtete später, sie hätten nie zuvor eine Schulgemeinschaft erlebt, die so zusammenhält.

Unsere Schüler, Familien und Mitarbeiter haben sich mit einer nahe gelegenen Bezirks-Oberschule zusammengetan, um ein Mosaik zu erstellen, das die Außenseite unseres Schulgebäudes schmückt. Dieses wunderschöne Kunstwerk liegt zur Straße hin und zeigt Vögel, die aus einem Käfig in die Freiheit fliehen. In das Kunstwerk integriert ist auch eine Telefonnummer für die­jenigen, die Schutz vor Menschenhandel suchen.

Bei der Einweihung des Mosaiks waren die Kinder der Gemeinschaftsschule und Jugendliche der nahe gelegenen Oberschule von den Familien der Mitarbeiter umgeben, während der benachbarte kambodschanisch-buddhistische Tempel von Oakland Friedenslieder sang. Pastoren aus benachbarten Kirchen sprachen Gebete. Gemeindevorsteher sprachen sich für die Stärke und das Versprechen unserer Gemeinschaft aus.

Behördenvertreter besuchten uns ebenso bereitwillig wie die Polizei oder Mitglieder von Glaubensgemeinschaften. Der Bürgermeister von Oakland kam am Neujahrsmontag zu unseren Kindern, als wir eine Gruppe von Pädagogen der Waldorfschule Chengdu aus China, begrüßten. Wir werden zu Festen im kambodschanisch-buddhistischen Tempel eingeladen und zu den Festen
unserer Brüder und Schwestern am Tag der indigenen Völker.

Im Zentrum unserer Arbeit steht die Erziehung als Kunst. Jeden Morgen beginnen wir den Tag als ganze Schulgemeinschaft mit Kindern, Mitarbeitern und Familien, um zu rezitieren: »Das ist unsere Schule, hier soll Frieden herrschen ...«, einen Spruch, der erstmals von Cecil Harwood (1898-1975) in Michael Hall, der ersten Waldorfschule eines englischsprachigen Landes verwendet wurde. Mit Trommeln, Liedern und Versen in mindestens drei Sprachen eröffnen die Kinder und die ganze Gemeinschaft den Tag. Dieser Eröffnungskreis soll sie dazu einladen, ihren Platz im Verhältnis zu ihrem eigenen Körper, zu ihrem Nachbarn, zur ganzen Gemeinschaft und zur Natur zu finden. Sobald dieses 15-minütige Ritual abgeschlossen ist, singen die Kinder nach Klassenstufen, gehen in ihre Klassenzimmer, und der Tag beginnt.

Die Handarbeit ist ein zentraler, von Freude begleiteter Faden, der sich durch das Leben der ganzen Schule zieht. Das Gründungsmitglied der Gemeinschaft Nhan Le strickt und häkelt mit den unteren Klassen. In den oberen Klassen arbeiten die Schülerinnen und Schüler an Origami, um den Raum entsprechend den Feiertagen zu schmücken und altgediente Eltern und Mitarbeiter nehmen an der Herstellung von Kränzen, am Färben von Seide und am Basteln von Kronen teil.

Die Kraft des Klassenspiels belebt die Kinder. Die Tatsache, dass die Englischschüler der Gemeinschaftsschule und die Kinder mit Sonderpädagogikbedarf den Bezirksdurchschnitt in den letzten fünf Jahren mit ihren Leistungen übertroffen haben, führen wir auf unsere sprach-, schauspiel- und gesangsreiche Umgebung zurück. Ein weiteres wesentliches Merkmal unserer Schule ist die Gartenarbeit. Gesegnet durch großzügige Spender, er­halten wir Unterstützung in der Ganztagsschule, damit die Kinder das Wachstum der Pflanzen von der Aussaat über die Blüte bis zur Ernte und der Zubereitung der Suppe erleben können.

Ausbildung und Vernetzung

Seit unserer Gründung existiert unsere Waldorflehrer-Ausbildung unter der Leitung von Mary Goral, Delano Hill und Sara Alvarado. Gleichzeitig haben wir davon profitiert, dass wir unsere Lehrer mit der großzügigen Unterstützung der verstorbenen Arlene Monks an das Rudolf Steiner College Public School Institute entsenden konnten. Am wichtigsten ist, dass ab 2018 das Mills Waldorf Professional Development Certified Program durch eine Partnerschaft mit der Mills College School of Education und der Alanus-Hochschule in Alfter Deutschland ins Leben gerufen wurde. Das Programm ist jetzt von der Alliance for Public Waldorf Education und der Association of Waldorf Schools of North America (AWSNA, dem US-amerikanischen Bund der Waldorfschulen) und der Waldorf Early Childhood Assocation of North America (WECAN) anerkannt. Es bietet ein über zwei Sommer laufendes, zweiwöchiges Programm unter der erfahrenen Leitung von Bernd Ruf für Notfallpädagogik und Jost Schieren, dem Dekan der Alanus-Hochschule, das zu einem Mills Waldorf Professional Development Zertifikat führt. Wir sind stolz darauf, in diesem Sommer unser drittes Jahr zu beginnen.

Im Jahr 2019 übertrafen unsere afroamerikanischen Schülerinnen und Schüler im staatlichen Test alle anderen öffentlichen Schulen der Stadt (Distrikt oder Charter). Unsere einkommensschwachen Latino-Schüler gewannen einen Preis, weil sie in den Bereichen Englisch, Kunst und Mathematik bei den obersten zehn Prozent des Lernfortschritts lagen. Schließlich übertrafen unsere Schülerinnen und Schüler mit Sonderpädagogikbedarf den Bezirksdurchschnitt im sechsten Jahr in Folge um das Doppelte.

Jetzt ist die Zeit gekommen, in der die Waldorfpädagogik vorangehen und sich bei der Suche nach innovativen Lösungen für die entscheidenden Gegenwartsfragen aktiv einbringen muss: Vielfalt und Gerechtigkeit in unserer Welt und in der Bildung. Die Waldorfpädagogik darf ihre Stärke als erprobtes Modell zur Bewältigung von Herausforderungen und zur Nutzung von Chancen feiern. Der Wind bläst in unsere Segel. Die wachsende Zahl an Forschungsergebnissen zum sozial-emotionalen Lernen und zur Gehirnentwicklung bestätigt, was sich die Waldorfpädagogik über die Zeit, über Sprachen, Klassen und Kulturen hinweg angeeignet hat.

Zu den Autorinnen: Monique Brinson, ehemalige Schulleiterin, Dr. Ida Oberman Gründerin, Lehrerin und Geschäftsführerin der Community School for Creative Education. Wiederveröffentlichung eines von der Redaktion gekürzten, überarbeiteten und ergänzten Textes mit Erlaubnis der Autoren und des Herausgebers; Originaltext in LILIPOH Magazine: https://lilipoh.com/

Übersetzung: Lorenzo Ravagli