Englisch, Spanisch und Kaqchikel

Thomas Wildgruber

In Guatemala herrschten vor vielen Jahrhunderten die Maya. Tempelanlagen und Stufenpyramiden zeugen von dieser vergangenen Hochkultur. 1511 landeten die Spanier an der Küste Südamerikas und leiteten die Kolonialzeit ein. Auf die Unabhängigkeitserklärung 1821 folgten verschiedene Diktaturen bis schließlich zwischen 1960 und 1996 ein Bürgerkrieg das Land heimsuchte. Besonders die Mayabevölkerung litt unter diesem Krieg, der über 200.000 Menschen das Leben kostete. Thomas Wildgruber berichtet über die Waldorfschule »Caracol«, in der Mayakinder und Nordamerikaner gemeinsam lernen.

Es ist fünf Uhr morgens. In einer halben Stunde wird es dämmern. Clara macht sich fertig für die Schule. Sie freut sich, denn diese Schule ist ganz anders als die frühere Primar­schule, auch wenn sie noch etwas ängstlich in der neuen Umgebung ist. Doch die neue Lehrerin hilft ihr, und die Schüler nehmen Clara so wie sie ist. Einige Wochen hat sie kein Wort gesprochen, dann aber, einmal, da fragte sie, ob sie der Klasse etwas schenken dürfe. Und sie stand auf und sang, allein, klar und kräftig ein Lied, das sie aus der Kirche kannte. Seitdem spricht sie und hat Freundinnen.

Clara zieht sich schnell an, richtet ihren Schulranzen. Die Mutter schläft noch. Es ist kalt in der dunklen Hütte und nichts zu essen ist da. Clara eilt hinaus und läuft den langen steilen Weg hinunter zur Bootsanlegestelle. Sie ist froh, dass sie jetzt alleine ist mit der Mutter, nachdem diese den Freund, der so oft betrunken und gewalttätig war, hinausgeworfen hat.

Nur hat sie oft Hunger und manche sagen, sie sei so klein, weil sie zu wenig zu essen bekäme. Nun ist sie unten am See und die anderen Kinder, die auch dank einer Patenschaft aus dem Ausland die »Escuela Caracol« besuchen können, steigen mit ihr in die »lancha«, das Boot, das sie zur Waldorfschule in San Marcos La Laguna am Atitlán-See bringt. Das Boot, die einzige Verbindung von einem Dorf zum anderen, ist schon voll mit müden Leuten, Frauen und Männern, die mit geschlossenen Augen vor sich hin dösen.

Clara schaut über die glatte Fläche des Sees, die immer heller das Licht der aufgehenden Sonne und die geschwungenen Linien der umgebenden Vulkane widerspiegelt. Als sie in San Marcos ankommen, ist es immer noch kalt, aber der Weg hinauf zur kleinen Waldorfschule wärmt. Clara geht nun in ihre Klasse, in der ihre Lehrerin Andrea knapp zwanzig Kinder des vierten und fünften Schuljahres zusammen unterrichtet; sie haben gerade Tierkunde und erforschen die vielen verschiedenen Vogelarten in den tropischen Bergwäldern ihrer Heimat. Die anderen Kinder gehen in die kombinierte zweite und dritte Klasse, in der Erwin, der Lehrer in beiden Altersstufen, Rechnen unterrichtet. Den rhythmischen und den Erzählteil machen sie zusammen, für das Rechnen gibt der Lehrer wechselnd der einen und der anderen Gruppe Aufgaben. Nacho, der Lehrer der ersten Klasse, übt mit seinen zwölf Kindern die ersten Zählschritte, dann zeichnen und schreiben sie die Zahlen und das erste Rechenzeichen. Die sechs Schüler der obersten, der sechsten Klasse, werden nach diesem Jahr in die Mittelstufe der Dorfschule wechseln. Ihr Lehrer Diego singt und tanzt sich mit ihnen durch die Geografie Südamerikas.

Nordamerikanische und indigene Kultur »im Schneckenhaus«

Ich bin für drei Wochen in dieser ersten Waldorfschule Guatemalas und begleite und berate die Lehrer im Unterricht. Wie überall in Lateinamerika machen sie mit Schwung und Freude den rhythmischen Teil des Hauptunterrichtes. Manchmal ist er zu lang und geht zu Lasten des, wie sie hier sagen, akademischen Teils. Die meisten Lehrer in den Ländern, die ich besuche, unterrichten mit wenig oder gar keiner Ausbildung. So erlebe ich viel Rezepthaftes und auch fragwürdige »Waldorf«-Traditionen, aber immer eine große Offenheit, zu lernen und das Neue gleich auszuprobieren. In den Konferenzen versuchen wir, die Methodik und den Lehrplan auch menschenkundlich zu verstehen. Ausnahmslos bei allen Lehrern erlebe ich eine liebevolle Beziehung zu ihren Kindern, nie höre ich ein scharfes Wort oder eine harte Zurechtweisung. Und die Kinder gehen gerne in ihre Schule.

Jede Klasse arbeitet in einem Hauptunterricht im tropischen Schulgarten. Gerade sieben die Drittklässler Kompost und bereiten die Erde für die Mais-Saat. Sie füttern die Hasen und Hühner – und sie lernen den Jahreskalender der Maya-Kultur und die Namen und Bedeutungen der Tage und der Zwanzigtagewoche. Achtzig Prozent der 79 Kinder aus Schule und Kindergarten sind aus der dörflichen, fast immer sehr armen Maya-Bevölkerung, die anderen kommen aus zugezogenen Ausländerfamilien. Das ist das Besondere der Schule »Caracol« (»Schneckenhaus«): Sie verschmilzt nordamerikanisch-europäische Kultur mit der indigenen. So lernen die Schüler neben Englisch auch Kaqchikel. Das ist die Alltagssprache in den Dörfern.

Manche Eltern sprechen kaum Spanisch und können nicht lesen. Sie leben von dem, was sie in den kleinen Gärten und Äckern an den steilen Berghängen anbauen, vom Fischen im See, vom Brennholz im Wald und von der Arbeit für die Touristen aus aller Welt, die die malerische Atmosphäre des Sees und der Berge anzieht.

Da bleibt nichts für ein Schulgeld. Nur Patenschaften aus dem Ausland ermöglichen den Kindern den Schulbesuch. Auch die Mitarbeiter der Schule können von ihrem geringen Gehalt kaum leben. Sie haben Nebenjobs oder leben in ihren Maya-Großfamilien, wo die ganze Verwandtschaft füreinander sorgt. Die Schule bräuchte mehr Kinder, das heißt mehr Geld, um die Lehrer besser bezahlen und ausbilden zu können, um neue Klassenzimmer zu bauen und die Lehrer dafür einzustellen.

Mit Joshua Wilson, einem Nordamerikaner, der an den See gezogen ist und die Schule gegründet hat, spreche ich über all diese Pläne. Da nicht mit mehr zahlenden Ausländern zu rechnen ist, muss man auf mehr Patenschaften für Maya-Kinder hoffen.

Für diese Kinder ist die Waldorfpädagogik ein Segen, denn hier erleben sie, so wie Clara, was im staatlichen Schulsystem Guatemalas nicht zu finden ist: persönliche Zuwendung und Betreuung und eine breite vielschichtige Ausbildung.

Patenschaften vermitteln die »Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners«

Mehr über die Schule und über die Maya-Kinder am Atitlán-See

Zum Autor: Thomas Wildgruber war von 1979 bis 2011 Klassenlehrer und Kunstlehrer für die Klassen 1 bis 8, veröffentlichte das Handbuch »Malen und Zeichnen 1. bis 8. Schuljahr«, nun auch in englischer, chinesischer und spanischer Sprache; er berät Schulen und gibt weltweit Fortbildungen in Methodik und Kunstdidaktik.