Eurythmische Notfall-Einsätze

Peter Elsen

Zur Zeit läuft dort der Versuch, eine Waldorf-Kindergärtnerinnen-Ausbildung auf die Beine zu stellen. 2015 war ich in Nepal, zehn Tage nach dem großen Erdbeben. Vor Ort erlebten wir mitten in der Arbeit ein schweres Nachbeben. In diesem Jahr berührte mich besonders die Flüchtlingssituation der Rohingya, so dass ich ein Teil des notfallpädagogischen Teams wurde, das sich nach Bangladesch aufmachte.

Wie sieht eine eurythmische notfallpädagogische Intervention aus? Je nach Einsatzgebiet und Teamzusammenstellung suche ich nach Übungen, die heilend wirken und die Zusammenarbeit fördern. Zum Beispiel Kugelübungen: Die ganz kleinen Kinder geben eine einzige Kugel mit schöner Musik – gesummt, gesungen oder von Flötenmusik begleitet – vorsichtig dem Nachbarn weiter und werden wieder vertraut gemacht mit dem Urerlebnis des Empfangens und Abgebens.

Von etwa acht Jahren bis etwa zwölf hat jeder eine eigene Kugel (oder auch einen schönen Stein oder Ähnliches) und das Geben und Nehmen wird rhythmisch strukturiert. Immer wieder müssen auch Kreuzungen der Bewegungen gemeistert werden, die für die Vernetzung der beiden Gehirnhälften besonders anspruchsvoll, aber eben auch besonders förderlich sind. Ab zwölf werden die Kinder und Jugendlichen immer mehr dadurch eingebunden, dass sie die Aufgaben oder das Tempo selber bestimmen dürfen.

Auch die Laut- und Toneurythmie gliedere ich den drei Altersgruppen entsprechend methodisch in Nachahmung, Beherrschung und Individualisierung. In der Lauteurythmie habe ich zudem immer mehr etwas liebgewonnen, was mich sonst auf die Palme bringen kann: das Namen Tanzen! Denn in den Lauten eines jeden Namens sind mindestens zwei Geschichten enthalten, das Ideal und die Gefahr. Wie zum Beispiel in »PETER«: ein kraftvolles, tiefes, begeistertes, ehrfürchtiges und dynamisches Wesen. Aber auch: eingebildet, streng, besserwisserisch, ernst und andere überrollend. Oder in »GAZA«: Widerstände beiseite schiebend, offen zum Himmel, die Gesetze des Himmels auf die Erde bringend und mit ihr verbindend. Aber auch: verdrängend, dem Falschen zuhörend, zerstörerisch und depressiv. Unvergessen bleibt mir die Arbeit in einem Zentrum für Frauen in Gaza, wo wir die beiden »Geschichten« Gazas jeden Tag bewegten, aber auch jeden Tag bis zu drei Namen von anwesenden Frauen. Bei den Namen der Frauen gab es aber immer nur die Lichtseite des Namens von mir und so sehr sie mich drängten, auch die Schattenseite zu benennen, blieb ich dabei: Das muss jeder für sich selber herausfinden oder zusammen mit einem vertrauten Menschen.

In der Toneurythmie habe ich sehr gute Erfahrungen mit meinem Alt-Gemshorn gemacht, das einen bezaubernden, warmen Ton von sich gibt. Für Bangladesch hatte ich aber von unserer fünften Klasse Okarinas und Flöten geschenkt bekommen. Mit einfachen, erfundenen Melodien haben wir die Arbeit mit den Kugeln begleitet und das Laufen der Lemniskate oder der harmonischen Acht. Zudem haben wir einfache Kreisformen mit Ballen und Lösen in Verbindung mit Terzen und Quinten bewegt.

»Child Friendly Spaces«

In den Einsatzgebieten, wo entweder Menschen (Gaza und Myanmar) oder die Natur (Nepal) für traumatische Erlebnisse gesorgt haben, gibt es prinzipiell zwei Möglichkeiten: die direkte Arbeit mit Kindern und Jugendlichen oder die indirekte mit den Erwachsenen, die ihrerseits mit den Kindern und Jugendlichen arbeiten. In der Regel starten wir mit der Arbeit bei den Kindern und übergeben dann an einheimische Kräfte, die wir regelmäßig fortbilden. Zu diesem Zweck wird ein »Child Friendly Space« (CFS) eingerichtet, zu dem die Kinder täglich kommen und in altersgerechten Gruppen durch schöne Tätigkeiten wie Malen, Spielen, Geschichten hören oder Eurythmie psychohygienisch umsorgt werden.

Die international tätige Organisation »Brac« hat mittlerweile 215 solche »kinderfreundliche Räume« in elf Camps mit über 800.000 Flüchtlingen aufgebaut – jeden mit drei einheimischen Kräften und einer aus den Reihen der Flüchtlinge selber. Wir waren gebeten worden, zwei CFSs zu beraten und den Trainern Übungen zur Selbstfürsorge an die Hand zu geben. Wir boten für die vor Ort tätigen Mitarbeiter und Psychologen Rhythmus- und Bewegungsspiele an, es gab Vorträge zum dreigliedrigen Menschen, Beobachtungs-, Wahrnehmungs- und Erinnerungsschulungen und Übungen der Stille und Langsamkeit. Im Idealfall können sie nun als Multiplikatoren Tausende von Kindern erreichen.

Eurythmie ist kein Exotenfach

In Bangladeschs Hauptstadt Dhaka, an einer Schule in einem der ärmsten Viertel, gaben wir dann noch einen zweitägigen Trainingskurs, allerdings nur für die Leitungsebene. Wir hoffen, dass die Erfahrungen und Einsichten weitergegeben werden, denn in vielen Ländern, wie auch in Bangladesch sitzen Dreijährige im Kindergarten und werden nach Stundenplan beschult. Es ist paradox: Unser waldorfpädagogischer Ansatz einer altersgerechten Gewichtung von Hand, Herz und Haupt wirkt hier sehr exotisch. Die Eurythmie wird interessanterweise aber gar nicht als exotisch erlebt. Der Hinweis, dass wir Sprache oder Musik in Bewegung umsetzen, ist immer ein Schlüssel zu vielfältigem Tun und Erleben. Da wir beim Einsatz in Bangladesch das Glück hatten, dass ein Teammitglied Bangla beherrschte, konnten dieses Mal die Vokale in den Spruch gegossen werden: Alo ekhane din okhane usha (Licht hier Tag dort Sonnenuntergang).

Ohne Bernd Ruf wäre der notfallpädagogische Zweig des Baumes der »Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners« wohl nicht entstanden. Ihm war von Anfang an die Mitarbeit von Eurythmisten in den notfallpädagogischen Teams ausgesprochen wichtig. Ohne meine Schule, die Freie Waldorfschule Schopfheim, und das Kollegium, das mich und meine Kollegin, die im Irak hilft, immer wieder ziehen lässt, wäre dieser eurythmische Einsatz nicht möglich. Vielen Dank!

Zum Autor: Peter Elsen ist Eurythmielehrer an der Freien Waldorfschule Schopfheim, Mitarbeiter in der Eurythmielehrerausbildung in Leiden/NL und in der Notfallpädagogik.