Flüchtlinge willkommen

Erziehungskunst | Herr Mall, wie kamen die ersten Flüchtlingskinder an das Parzival Zentrum?

Lukas Mall | Das Parzival-Zentrum ist seit Beginn für alle Kinder, besonders solche mit traumatischen Erfahrungen und sozialen Schwierigkeiten offen. Hier arbeiten Pädagogen, die über die Notfallpädagogik der Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners e.V. vielfältige Erfahrungen im Ausland und mit der Ambulanz für Notfallpädagogik für traumatisierte Kinder und Jugendliche im Inland gesammelt haben.

Seit Sommer 2014 steigen die Zahlen der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge (UMF) in Karlsruhe, weil sich hier die Landeserstaufnahmestelle befindet. Die Kinder werden vom Jugendamt in Obhut genommen, die Inobhutnahmestellen weisen sie den Bildungseinrichtungen zu. Das Parzival Zentrum ist der einzige freie Träger in Baden-Württemberg, der solche Kinder unterrichtet.

EK | Woher kommen die unbegleiteten Flüchtlingskinder?

LM | Die Mehrzahl kommt aus den aktuellen Kriegsgebieten wie Syrien, Irak, Afghanistan, Palästina, aber auch Somalia und Sudan. Weitere aus Eritrea, Gambia, Sri Lanka, Indien, Bosnien, Kosovo und Albanien.

EK | Warum stieg der Andrang seit Weihnachten 2014 so rapide an?

LM | Dies ist auf die allgemeine Situation in der Welt zurückzuführen. Neben den zunehmenden Flüchtlingsströmen im Nahen Osten und bewaffneten Konflikten auf dem afrikanischen Kontinent spielen Krankheiten (Ebola) und Armut eine zentrale Rolle.

EK | Wie finanziert die Schule die Betreuung und den Unterricht der Kinder und Jugendlichen?

LM | Die Finanzierungsfrage ist weitgehend ungeklärt. Lediglich für 36 Schüler zahlt die Stadt Karlsruhe einen Zuschuss. Wir arbeiten mit dem Regierungspräsidium und dem Kultusminister an Lösungen.

EK | Mit welchen staatlichen oder kommunalen Stellen arbeiten Sie zusammen?

LM | Mit dem Regierungspräsidium und Kultusministerium, auch privaten und öffentlichen Inobhutnahmeträgern, dem Jugendamt und den Sozialen Diensten sowie Pflegeeltern.

EK | Brauchen die Flüchtlingskinder nicht ein besonderes Betreuungs- und Förderungskonzept oder sogar therapeutische oder psychologische Unterstützung?

LM | Das ist sehr unterschiedlich und hängt von verschiedenen Faktoren ab. Die meisten haben traumatische Erfahrungen, manche extrem schwere, wie Verlust der Angehörigen entweder im Kriegsgebiet, auf der Flucht oder schlimme Erlebnisse in Flüchtlingslagern. Zunächst müssen alle medizinischen Fragen und die für das leibliche Wohl wichtigen Dinge geklärt werden, dann kommen wir als Schule. Ein an traumapädagogischen Gesichtspunkten ausgerichteter strukturierter, Orientierung und Halt bietender Alltag ist essentiell wichtig. Neben dem Erlernen der deutschen Sprache müssen Möglichkeiten für den Ausdruck der harten Erlebnisse geboten werden. Malen, Zeichnen, Musik, aber auch Eurythmie und Sport sind wichtige Elemente, um besonders das Rhythmische in den Jugendlichen wieder zu harmonisieren. Verlässliche Beziehungen müssen geschaffen werden, denn nach einer Flucht aus einem Kriegsgebiet vertrauen die Jugendlichen niemandem mehr. Selbstwirksamkeit muss wieder erfahrbar werden, wir müssen den Jugendlichen aus ihren Ohnmachtserlebnissen heraus helfen, dazu bedarf es in manchen Fällen auch eines individuell therapeutischen oder psychologischen Einsatzes neben den heilenden Elementen der Waldorf- und Traumapädagogik.

EK | Wie schätzt das Parzival-Zentrum die zukünftige Entwicklung ein? Was können Schulen generell für die Flüchtlinge tun?

LM | Im Moment gehen wir davon aus, dass die Situation nicht an Brisanz verliert, in Karlsruhe kommen im Durchschnitt täglich sechs unbegleitete Flüchtlingskinder an. Wir müssen in den Schulen (und nicht nur dort) eine Willkommenskultur schaffen, damit eine Eingewöhnung gelingen kann. Wir brauchen Pädagogen, Sozialarbeiter, Therapeuten, die ein hohes Maß an interkultureller Kompetenz und Erfahrung in der Arbeit mit Traumatisierten haben.

Sind Deutschkenntnisse vorhanden, müssen bestehende Klassenverbände geöffnet werden. Wir haben zum Teil hoch motivierte, lernbegierige Schüler. Aber es muss auch ein Angebot für diejenigen geschaffen werden, die erst einmal lesen und schreiben lernen müssen. Das ist eine Herausforderung, zumal es nicht in der Muttersprache geschehen kann. Probleme, die von der Traumatisierung herrühren, dürfen nicht klein geredet werden.

Wir brauchen eine starke Integrationsförderung. Aufenthaltsrechtliche Fragen müssen so schnell wie möglich geklärt werden, das Ankommen kann sonst nur schwerlich gelingen.

Die Fragen stellte Mathias Maurer.

Hinweis: Notfallpädagogische Jahrestagung »Trauma und Entwicklung«, 10.-12 April 2015 am Parzival-Zentrum.

Infos: www.freunde-waldorf.de/notfallpaedagogik