Gewinnen am Widerstand

Sven Saar

»The Goetheanum is not the headquarters, but the heartquarters!« Ein eindrucksvolles Bild, das Florian Osswald, Leiter der Pädagogischen Sektion, entwickelte – wissen wir doch aus der Forschung, dass das Herz nicht das Blut durch den Körper pumpt, sondern von ihm bewegt wird, es erneuert und vitalisiert.

Die Weltlehrerkonferenz findet alle vier Jahre statt, und sie wird immer internationaler: In diesem Jahr trafen sich vom 28. März bis 2. April in Dornach über 800 Menschen aus 51 Ländern! Das diesjährige Thema lautete »Gewinnen am Widerstand«.

Da muss man Kamele schlucken

Die Waldorflehrer aus aller Welt erhoffen sich geistige und fachliche Impulse von dieser Tagung. In über 70 Arbeitsgruppen üben sie sich im Zeichnen, im Unterrichten oder im künstlerischen Sprechen und diskutieren über Grund­-lagen und Perspektiven ihrer Arbeit. Dabei versteht sich das Goetheanum nicht als zentrale Quelle, sondern als Ort der Begegnung: Fast alle Seminare und Vorträge werden von Menschen aus der Peripherie gehalten. In Pausengesprächen wird klar, wie unterschiedlich die Herausforderungen sind: Zwei norwegische Kollegen erzählen von der Schwierigkeit, in ihrem langgestreckten Land eine einheitliche

Lehrerausbildung zu organisieren. Auch die alltäglichen Kämpfe mit der Bürokratie rauben Energie. »Man muss da schon einige Kamele schlucken«, schmunzeln sie mit einer überraschenden norwegischen Redensart. Oder auf den Philippinen, wo die Schulen staatlich nicht finanziert, aber trotzdem häufig inspiziert werden. Größere Sorgen macht ihnen dort allerdings die Entwicklung einer Zweiklassengesellschaft: Die gebildete Mittelklasse, aus der die meisten Schüler kommen, hat sich inzwischen ganz auf die englische Sprache umgestellt, und so kommt die Hälfte der Kinder in den Kindergarten, ohne ihre Muttersprache sprechen zu können. Das Zeitgeschehen ist präsent. Mehrere Vortragsredner zitieren Viktor Frankl, der aus seinen Erfahrungen im KZ Buchenwald tiefe Lehren über das menschliche Sein zog: »Der Mensch ist das Wesen, das immer entscheidet, was es ist.« Wir sind nie im innerlichen Sinne fremdbestimmt, wenn wir es nicht sein wollen. Wie erziehen wir junge Menschen in unseren Schulen dazu, ihrem Denken, Fühlen und Wollen zu vertrauen und es zur Grundlage eines freien Handelns zu machen? Der Kasseler Mathematiklehrer Stefan Sigler vertraut auf die Wirkung des gut geplanten und durchgeführten Unterrichts, in dem er trotz aller sozialen und künstlerischen Unternehmungen das geistige Zentrum der Schule sieht. Ein solcher Unterricht ermöglicht den Schülern, die Gesetzmäßigkeiten der Mathematik selber zu entdecken und somit zu erfahren, dass in ihnen eine Kraft steckt, sich der Wahrheit nähern zu können. Das forschende Herantasten an die Welt zu unterstützen ist der pädagogische Nukleus, nicht das bloße Vermitteln von Inhalten.

Bald erste kurdische Waldorfschule?

Neben den pädagogischen Beiträgen gab es zahlreiche Blicke in das aktuelle Zeitgeschehen. Die Kurdin Nesreen Bawari ist für die »Freunde der Erziehungskunst« aktiv. Sie war früher Ministerin in der irakischen Übergangsregierung nach dem Sturz von Saddam Hussein und dort für die Rekonstruktion von 4.000 im Krieg zerstörten Dörfern zuständig. Wenn sie von ihren Bemühungen berichtet, in einem arabischen, vom Krieg gezeichneten Land eine Waldorfschule zu gründen und man sich vorstellt, man müsste die Eltern, die Lehrer und die Bürokraten in einer zutiefst traditionellen und durch langes Leiden verunsicherten Gesellschaft von der Angemessenheit einer Erziehung zur Freiheit überzeugen, wird einem klar, wie vergleichsweise einfach doch unsere mitteleuropäischen Auseinandersetzungen sind. Bawari hat bereits 50 Waldorfschulen in vielen Ländern besucht und sie lässt sich von den Widerständen, denen sie begegnet, nicht einschüchtern. Sie ist als Universitätsprofessorin und prominente Politikerin gut vernetzt und glaubt fest daran, bald die erste kurdische Waldorfschule eröffnen zu können.

Den Aufgaben gewachsen?

Der Schweizer Manager Rolf Soiron stellte den Teilnehmern nachdrücklich die Frage, ob sie sich der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts wirklich bewusst sind. Zu viel sei in unserem Verständnis von Erziehung noch von alten Vorstellungen geprägt. Er zitiert den Bericht des World Economic Forum für 2016 und erklärt, dass die Welt sich durch Automatisierung und sich ständig verbessernde Technologien in einem Jahrhundert »stärker verändern wird als in den letzten 20.000 Jahren« (so Google-Direktor Ray Kurzweil). Zwei Drittel der gegenwärtigen Schüler werden laut Soiron nach einem

langen Arbeitsleben dereinst aus Berufen ausscheiden, die es heute noch gar nicht gibt. Herausforderungen in Erwerbszweigen wie dem Handel, dem Gesundheitswesen oder der Industrie werden kaum mit den Werten und Systemen des 20. Jahrhunderts zu bewältigen sein, in denen wir Lehrer und Lehrerinnen ja alle aufgewachsen sind.

Kunst aus Brasilien, Israel und der Schweiz

Was müssen wir den jungen Menschen aus unseren Kindergärten und Schulen mitgeben, damit sie lernfähig bleiben und mitgestalten können, ohne sich einfach nur anzupassen? Die vielen Kollegen und Kolleginnen, die erhebliche persönliche Opfer bringen, um an dieser Tagung teilnehmen zu können, verstehen nicht, warum aus den wohlhabenden Schulen Mitteleuropas vergleichsweise wenige Lehrer gekommen sind. Wer nicht hier ist, verpasst nicht nur wertvolle Vorträge und inspirierende Arbeitsgruppen, sondern auch ein erstklassiges Abendprogramm! Das Goetheanum-Ensemble spielt einige Szenen aus der neuen Faust-Inszenierung: spritzig, einfallsreich und von großartiger Bildwirkung macht die Aufführung Appetit auf die großen Faustwochen in diesem Sommer. Der Oberstufenchor der Rudolf-Steiner-Schule Bern und die Junge Waldorf-Philharmonie reisen eigens an, um meisterhafte Konzerte zu bestreiten. Sie alle werden mit stehendem Applaus belohnt. Ein besonderes Erlebnis ist die Aufführung des brasilianischen Eurythmie-Ensembles »Cia Terranova«. Sie haben das »Mittsommerspiel« von Marguerite Lobeck-Kürschner grandios mit speziell komponierter Musik adaptiert und umgesetzt. Originelle Kostüme unterstützen die mitreißend agierenden und tanzenden Schauspieler und Eurythmisten. Man geht beschwingt und verzaubert aus dem Saal und weiß, man hat ein großes Kunstwerk erleben dürfen. Bewegend ist auch die Aufführung der »Antigone« der Initiative Sha’ar laAdam-Bab lil’Insan aus Israel. 23 arabische und israelische Waldorfschüler aus elften und zwölften Klassen bringen das antike Stück gemeinsam auf die Bühne und sprechen dabei alle Texte auf Arabisch und Hebräisch. Deutsche und englische Untertitel erleichtern das Verständnis.

Die Direktoren Yaakov Arnan (Sohn eines israelischen Generals) und Mahmoud Soubach (Sohn eines arabischen Scheichs) leben ihren Schülern eine harmonische Zielstrebigkeit vor, von der diese viel lernen können, denn die arabischen und hebräischen Jugendlichen können sich untereinander gar nicht verständigen, obwohl sie teilweise nur hundert Meter voneinander entfernt wohnen und »das gleiche Bier trinken, die gleichen Zigaretten rauchen und der gleichen Mode folgen«, lacht Soubach. In Israel hat die Initiative inzwischen offizielle Preise gewonnen. Dort wird sie vor allem außerhalb der Waldorfwelt wahrgenommen und trägt so ihren Friedensimpuls in eine Öffentlichkeit, die diese Art von Inspiration sehr nötig hat.

Eine Woche – eine Gemeinschaft

Die Teilnehmer aus aller Welt werden innerhalb der Woche zu einer harmonischen Weltgemeinschaft. Es ist bemerkenswert, wie viele junge Menschen sich hier versammelt haben. Ihnen wird auf dieser Tagung viel Raum geboten, auch im Vortragsprogramm. Dadurch wird die Zukunftsfähigkeit der Waldorfbewegung eindrucksvoll deutlich! Die Simultandolmetscher für sieben verschiedene Sprachen leisten das Äußerste. Ausgiebiges Singen schafft eine warme, inklusive Atmosphäre. Dutzende Menschen sorgen hinter den Kulissen für einen weitgehend reibungslosen Ablauf. Die Logistik für große Tagungen wird am Goetheanum meisterhaft beherrscht. Das Speisehaus produziert an jedem Tag zwei hochwertige warme Mahlzeiten für 900 Gäste, der Saaldienst und die Bühnenkräfte gestalten einen unaufdringlichen technischen Rahmen und Dorothee Prange vom Büro der Pädagogischen Sektion gelingt es, in allen Situationen lächelnd und freundlich auf die vielen verschiedenen Bedürfnisse einzugehen.

Eine solche Tagung ist eine Sternstunde der Waldorfbewegung. Voller Zukunftsimpulse geht man vom Herzenszentrum zurück an die Peripherie und stellt sich den Herausforderungen dort als erfrischter, erneuerter Mensch.

Zum Autor: Sven Saar ist Klassenlehrer an der Freien Waldorfschule Wahlwies in Stockach.