Hilfe für die ganz unten. Die »Corporación Educativo Social« in Bogotá

Thomas Wildgruber

Kolumbiens Ruf in der Welt könnte kaum schlechter sein: Guerilla, Raubüberfälle, Entführungen, Drogenkartelle. Diese Stimmung lastet auf den Gemütern der Kolumbianer. Doch bin ich in den fünf Wochen, in denen ich in diesem Land für die Waldorfpädagogik unterwegs war, nur warmherzigen, gastfreundlichen und achtsamen Menschen begegnet. In den 1980er Jahren entstanden aus der Initiative engagierter Unternehmer die ersten Waldorfschulen in Kolumbien. Das Colegio Luis Horacio Gomes in Cali, das Colegio Waldorf Isolda Echevaria, das Colegio Rudolf Steiner und das erste anthoposophische Behindertenheim Arca Mundial – alle drei in Medelín. Am Rande von Bogotá entstand 1998 aus Elterninitiative das Colegio Campestre Monte Cervino mit Unter- und Mittelstufe. Eine kleine Initiative besteht seit fünf Jahren mitten in Bogotá: »Inti Huasi« – »Haus der Sonne« – mit drei Kindergartengruppen und drei Klassen von insgesamt 14 Schülern. Dort wird im Oktober 2014 das zweite nationale Ausbildungsseminar für Waldorflehrer der Unterstufe stattfinden. Bogotá, die Hauptstadt auf fast 3.000 Meter Höhe, ist mit rund acht Millionen Menschen die größte Andenmetropole. Drei Wochen habe ich sie täglich frühmorgens mit einem vertrauenswürdigen Taxi in der abgasschweren dünnen Luft durchquert – vom Norden, wo Stahlgitter und Wachmänner die Häuser der Wohlhabenden versperren, in den Süden, in eine der größten Barackensiedlungen Lateinamerikas, wo sich die Asphaltstraßen in Schlaglöcher und Schlammwege auflösen.

In dieser Stadt weiß jeder, zu welchem »estrato« er gehört, in welche Schicht er hineingeboren oder hineingeraten ist. Im »estrato« sechs und darüber bist du einer der Superreichen; bei »estrato« eins oder null bist du ganz unten in einer Hütte ohne Strom und Wasser, arbeitslos, arbeitsuchend, kinderreich und hungrig. Im Süden, an den lehmigen Hängen der Sierra Morena ist mein Arbeitsplatz, die »Corporación Educativo Social«, »CES Waldorf«. Vor zwölf Jahren hat sie Helmut von Loebell, ein erfolgreicher Kaufmann, zusammen mit Sozialarbeitern gegründet. Heute finden dort zwei Kindergartengruppen und täglich etwa 120 Schulkinder und Jugendliche einen Hort der Sicherheit und Aufmerksamkeit.

Jedes Kunstwerk erschafft eine sinnerfüllte Welt

In einer Vormittags- und Nachmittagsschicht betreuen sechs Pädagogen in der »biblioteca« die Schüler, schenken ihnen ein offenes Ohr und helfen bei den Aufgaben für die Schule des Viertels, wo in Klassen mit 40 Schülern nur unpersönlicher Drill möglich ist. In einem siebenwöchigen Wechsel können die Kinder in handwerklichen und künstlerischen Arbeitsgruppen ihr Selbstwertgefühl stärken.

Zwei Wochen konnte ich mit den Pädagogen ein breites Spektrum künstlerischer Ausdrucksmittel im Zeichnen und Malen und in anderen Techniken auf ihre didaktische Anwendung und ihre pädagogischen Wirkungsmöglichkeiten hin erarbeiten. Die menschenkundlichen Betrachtungen und praktischen Übungen zielten darauf ab, dass die Kinder erfassen können, was geschieht, wenn sie künstlerisch tätig sind: Mit jedem noch so kleinen Werk sind sie Schöpfer einer neuen sinnerfüllten Welt. Nicht nur die für einen Mitteleuropäer unbekannte Herzlichkeit und Wärme der Pädagogen und der Kinder, auch die unbefangene Aufnahme neuer Ideen und Themen haben mir die Arbeit zu einer Freude gemacht.

Selbstbewusst durch Theaterarbeit

Gerade haben die älteren Jugendlichen in der Theatergruppe ein Bühnenstück erarbeitet: De donde vengo yo – Woher ich komme. Sie führen es in einem kleinen Stadtteiltheater auf. In kurzen Szenen schildern sie einen Tag in ihrem Alltag: Eltern und Kinder schlafen gemeinsam in einem Raum unter einer Decke auf dem Boden. Ohne Frühstück machen sich alle auf den Weg, ein paar Pesos zu verdienen. Vater und Sohn sammeln Altpapier, verkaufen es, und werden von zwei Drogensüchtigen ihres ärmlichen Verdienstes beraubt. Mutter und Tochter verkaufen Süßigkeiten und »minutos«, Telefonminuten auf einem Handy. Am Abend wird der verzweifelte und schon betrunkene Vater gegen seine Frau gewalttätig. Die Kinder verteidigen ihre Mutter und rufen laut: So wollen wir nicht werden. Und dann zeigen sie in den letzten Szenen ein anderes Leben aus der pädagogischen Arbeit in CES Waldorf – Zukunftsbilder. Nach der Aufführung berichten sie dem Publikum, wie sie in dieser Institution, besonders in der Theaterarbeit und in den Aufführungen, zu sich selbst gefunden haben, wie sie jetzt ihrer Umwelt selbstbewusst und mutig entgegentreten können. Es gibt einen Weg raus aus dem Zirkel von Armut und Gewalt! Die Rolle der Mutter in diesem Stück spielte überzeugend und stark Katerin, 20 Jahre alt. Ich wollte mehr von ihr wissen. Und Katerin erzählte:

Katerins Lebensgeschichte

»Ich habe fünf ältere Halbgeschwister und vier direkte Geschwister. Mein Vater war nie in der Schule, er ist Gelegenheitsarbeiter, selten ist er zu Hause. Er war schon einmal verheiratet, wurde mit 26 Jahren Vater. Meine Mutter Stella, heute 47 Jahre alt, hat 8 Kinder, mit 17 hat sie ihr erstes Kind bekommen. Ihr erster Mann ist vor 27 Jahren gestorben. Weil sie oft krank ist, kann sie nicht außer Haus arbeiten. Jede Nacht bereiten wir mit ihr Backwaren für den Verkauf am nächsten Morgen.

Als ich vier Jahre alt war, sind wir vom Land in die Sierra Morena gekommen. Unser Haus hatte nur einen Raum und ein Bett; zu sechst schliefen wir da. Das Wasser mussten wir in Eimern holen, Kerzen waren unsere Beleuchtung. Heute leben wir in einem ebenerdigen Haus mit Ziegelmauern und drei Schlafräumen. Die Straßen sind nicht asphaltiert. In der Nähe unseres Hauses gab es einen Erdrutsch. Unser Haus steht jetzt als letztes vor dem lehmigen Abhang.

Nach 8 Uhr abends können wir in unserem Viertel nicht mehr auf die Straße gehen. Nachts herrschen die ›Schwarzen Adler‹, die Handlanger der Paramilitärs. Sie sorgen für die ›sozialen Säuberungen‹. Die ab und zu vorbeifahrenden Polizeipatrouillen kümmern sich nicht darum. Menschen, die den Machtbereich der ›Paras‹ stören, Banden, Diebe oder andere Drogenhändler, werden liquidiert. Pamphlete an den Häusern warnen sie: ›Wenn du nicht zur rechten Zeit und am rechten Ort im Bett liegst, dann verschaffen wir dir eines, nämlich dort, wo du nie mehr aufwachst‹. Niemand weiß genau, von wem die Jungen getötet wurden, die man am Morgen findet.

In der Schule habe ich immer gut gelernt, obwohl es für mich nicht leicht war, mit den Mädchen, die sich viel auf der Straße herumtrieben, zurecht zu kommen. Manche von ihnen sind mit 14 Jahren schon Mutter geworden.

Ein Glück, dass ich, als ich 14 Jahre alt war, zu CES Waldorf kommen konnte. Hier bekam ich Anschluss an die Gemeinschaft. Ich habe gelernt, nach vorne zu blicken und mir konkrete Vorstellungen über mein Leben zu machen.

Ich mache jetzt eine Ausbildung in Ökotourismus. Bei CES Waldorf kann ich glücklicherweise ein wenig für meine Ausbildung dazuverdienen. Und wie schön wäre es, ich könnte einmal in andere Länder reisen und deren Kulturen und Lebensweisen kennenlernen! Ich weiß nicht, ob ich es schaffe, mein Studium schnell zu beenden. Aber ich will es!« Oft wollen von CES Waldorf angefragte Spender wissen, woran denn die Nachhaltigkeit des Projektes festzumachen sei. Katerin gibt die Antwort.

Link: www.ceswaldorf.org.co