Hören heißt, sich öffnen

Iru Mun

Das diesjährige Treffen fand vom 1.-3. Juli 2021 an der Freien Hochschule in Stuttgart statt. Neben den Stuttgarter Kollegen waren die Dozenten aus Witten-Annen, Hamburg und Mannheim anwesend.

Ein Hauptthema dieser Tagung war die Frage, wie die Audiopädie stärker in den Unterricht der Waldorfschulen eingebettet werden könnte. Hierfür wurde Reinhild Brass eingeladen, die uns durch entsprechende Übungen die unmittelbare Wirksamkeit der Audiopädie zum Erlebnis brachte. Brass hat ein musikpädagogisches Konzept entwickelt, welches das Hören in den Mittelpunkt des musikalischen Vorgangs rückt. Ein zentraler Aspekt ist der Zustand der inneren und äußeren Stille, die als Ausgangspunkt jeglichen musikalischen Geschehens verstanden wird.

Die Audiopädie unterscheidet sich grundlegend von der etablierten Musikpädagogik und dem tradierten Musikbegriff. Das improvisatorische Element erhält eine neue Bedeutung, denn im Improvisationsvorgang geht es nicht um musikalische Aktionen und Reaktionen, sondern um Gestaltungsprozesse, die aus dem Hören, der Atmung und Bewegung und dem sozialen Wahrnehmen der anderen Gruppenmitglieder entstehen. Die tradierte Melodie- und Harmoniewahrnehmung wird erweitert durch die Klangwahrnehmung unterschiedlichster Materialien (Metall, Holz, Wasser, Luft, Papier) und die bewusste soziale Wahrnehmung der Anderen.

Aufgrund ihres inklusiven Ansatzes ist die Audiopädie für die Schulpädagogik von unschätzbarem Wert, denn sie ermöglicht allen Kindern und Erwachsenen, voraussetzungslos gemeinsam zu musizieren. Und dennoch hat sie bis heute nicht den Stellenwert im musikpädagogischen Kanon, der ihr gebührt. Diese Tatsache liegt sicherlich auch darin begründet, dass die Audiopädie von der traditionellen Schulmusikpädagogik abweicht, denn sie begreift Begriffe wie Melodie, Harmonie und Rhythmus neu. Damit ist sie dem zeitgenössischen Musikduktus näher verwandt als der Musikpraxis, die noch auf dem traditionellen Kadenzschema und der Organisation eines Ensembles durch eine Partitur und einen Dirigenten beruht.

»Künstlerischer Unterricht« bedeutet in der Waldorfpädagogik nur zum Teil Beschäftigung mit Kunst. Eigentlich meint Erziehungskunst den aktiven und unmittelbaren Gestaltungsvorgang von Lebens- und Lernprozessen, der intuitiv von Lehrern impulsiert und dann von den Schülern aufgegriffen, mitgestaltet und verwandelt wird. So kann der Unterricht zu einer aktiven Lebensgestaltung werden. Die Audiopädie arbeitet nach dem gleichen Prinzip: Durch das Hören aus der Stille heraus, das sich dann in Bewegung, Klangwahrnehmung und das gemeinsame Klangspiel verwandelt, können soziale Momente und verdichtete Beziehungen entstehen, die für die Kinder und Erwachsenen heilsam und innerlich stärkend wirken, wenn diese in ihnen nachklingen.

Die Arbeit mit Reinhild Brass machte deutlich, welche Möglichkeiten die Audiopädie auch für den Hauptunterricht und die Klassenlehrer bietet. Sie vereint aktives Hören und Zuhören sowie Improvisations-, Bewegungs- und Spiel­elemente und befreit die Klassenlehrer zugleich vom Notenlesen oder der Beherrschung eines Instruments.

So wie die Qualität einer Geige die Klangästhetik beeinflusst, so entscheidet die Verarbeitung und das Material audiopädischer Instrumente über deren Klangkultur und damit auch über deren Wirkung auf die Hörwahrnehmung des Menschen. Die Audiopädie lässt Kinder ihre Musikalität entwickeln, ohne den Leistungsdruck, die Ängste oder Minderwertigkeitskomplexe, die oft den Instru­mentalunterricht begleiten. Es gibt keine Notation oder einen zu erfüllenden Ablauf. Alles ist Wahrnehmung des umliegenden Hörraums und aus dieser Wahrnehmung heraus impulsieren sich die musikalischen Aktionen der Spielgruppe. Die Kinder musizieren nicht eine vorgegebene Vorstellung, sondern die Gruppe gestaltet ihren musikalischen Vortrag durch die Zuwendung an das hörend Erlebte.

Am Waldorf Institut Witten-Annen, am Waldorfseminar in Hamburg, an der Freien Hochschule Stuttgart, am Campus Mitte-Ost und an der Alanus Hochschule am Standort Mannheim wurde die Audiopädie bereits in die Lehrer-Ausbildung integriert und wird stetig erweitert. Am Institut für Audiopädie / Zentrum für HörKunst in Witten bietet Reinhild Brass eine berufsbegleitende Ausbildung an und auch in Taiwan, Japan, China und Süd­korea wurden durch sie mittlerweile Audiopädieaus­bildungen ins Leben gerufen.

Am Ende unserer dreitägigen Konferenz waren die Musikdozenten der Ausbildungsseminare sich einig, dass die Audiopädie im Sinne einer zeitgemäßen Pädagogik an den Waldorfschulen nur ein Gewinn sein kann – musikalisch, sozial und nicht zuletzt auch als methodische Manifestation und innovative Fortführung der Sinneslehre Rudolf Steiners. Die Qualität des Hörens – aus einer inneren und äußeren Stille heraus – darf nach 102 Jahren Waldorfpädagogik als heilsamer Impuls wieder neu ergriffen werden.

Hinweis: Audiopädie kennenlernen: Tagung »Musik als soziale Kunst in Heilpädagogik und sozialer Arbeit« vom 15.-19.10.2021 in der Lebensgemeinschaft Bingenheim; Tagung »Audiopädie und Inklusion« vom 28.-31.10.2021 in Leipzig. Kontakt: reinhild.brass@audiopaedie.de

Zum Autor: Iru Mun ist Professor für Musikpädagogik an der Alanus Hochschule am Standort Mannheim. 16 Jahre lang war er als Musiklehrer an zwei Berliner Waldorfschulen tätig.