Holzspielzeug statt Flachbildschirm

Katrin Tevdorashvili

Im Gespräch mit Marika Chkhikvadse vom Waldorfkindergarten Tbilissi in Georgien 

Wer nahe dem gewaltigen Bronzedenkmal des Schriftstellers Wascha Pschawela den schattigen Hof des Waldorfkindergartens neben der Waldorfschule betritt, dem erscheint er als Oase der Ruhe. Kommt man durch den Säuleneingang in Marikas Gruppenraum, so empfangen einen das sanfte Licht, die gedämpften Farben und das leise Singen überaus wohltuend. Der Waldorfkindergarten Tbilissi ist der einzige in Georgien und mit vier Gruppen zu je zwanzig Kindern gut besucht. Bildung spielt bei den Georgiern eine große Rolle und die Eltern erwarten, dass ihre Kinder im Kindergarten eine Menge Gedichte auswendig lernen. Daher ist das Konzept des Waldorfkindergartens für die Georgier ziemlich ungewöhnlich.

Das Feiern der Jahresfeste nimmt hingegen traditionell einen hohen Stellenwert ein. Höhepunkte sind hier das Osterfest und der Tag des Heiligen Georg.

An der Grenze zwischen Morgen- und Abendland gelegen, war Georgien seit Anbeginn seiner Geschichte aufnahmebereit für neue Begegnungen und Impulse etwa in Gestalt der Argonauten im achten Jahrhundert vor Christus, der Juden nach der Babylonischen Gefangenschaft und des Christentums im ersten Jahrhundert. Der Drachenbekämpfer Georg ist der besondere Schutzpatron des Landes, dem Wirken seiner Verwandten Christina aus Kappadokien (der Heiligen Nino), so heißt es, verdanken die Georgier ihre Christianisierung im frühen vierten Jahrhundert.

Die Georgier sind ein freiheitsliebendes Volk. Den Menschen zur Freiheit zu erziehen, war schon im Mittelalter ein Grundgedanke ihrer Könige, Dichter und Philosophen. Und auch das anthroposophische Gedankengut wurde früh mit Interesse aufgenommen. Noch zu Steiners Lebzeiten gab es in Georgien Übersetzungen seiner Vorträge. In der Sowjetunion waren anthroposophische Schriften verboten, wurden aber heimlich von Hand zu Hand weitergegeben. Mit Swiad Gamsachurdia wurde zum ersten Mal ein Anthroposoph Staatspräsident.

In den 1980er Jahren waren alle Kindergärten in Georgien stark ideologisch geprägt. Sie waren Erziehungsanstalten im Sinne der Kommunistischen Partei. 1988 begann eine Eltern-Initiative, im kleinen Kreis Jahreszeitenfeste zu ge­stalten. 1990 gab es eine erste Waldorfkindergartengruppe. Im selben Jahr hörte Marika als junge Pädagogikstudentin auf dem Idriart-Kulturfestival in Tbilissi Vorträge von Miha Pogacnik und Swiad Gamsachurdia. Sobald sie die Möglichkeit erhielt, besuchte sie in Stuttgart das Kindergartenseminar. Seit 2001 führt sie ihre eigene Gruppe in Tbilissi.

Inzwischen gibt es dort auch andere Kindergärten mit unabhängigem Konzept, allerdings legen diese ihren Schwerpunkt auf intensive Vorschulbildung und Unterhaltungsprogramm. Sie werben mit großen Flachbildschirmen im Gruppenraum, Fremdsprachenkursen, Jazz Dance und eigenen Kinder-Psychologen. Die Eltern, die zum Waldorfkindergarten stoßen, sind meistens begeistert, nicht zuletzt über die besonders gepflegte Gestaltung der Räume. Die Eltern schätzen die Naturholzmöbel und die handgefertigten Spielsachen und die ruhigen Farben – anstelle der sonst üblichen grellbunten Plastikausstattung. Zehn Kinder mit einem deutschen Elternteil besuchen den Kindergarten. »Georgische Kinder sind eindeutig chaotischer«, gibt Marika zu, »sie kennen von zu Hause meist keinen geregelten Tagesablauf, schauen viel fern, gehen oft spät ins Bett. Bei fast allen deutschen Kindern merkt man, dass sie gewohnt sind, zu festen Zeiten zu schlafen.« Es ist in Georgien nicht üblich, den Alltag nach den Bedürfnissen der Kinder einzurichten. Untereinander verhalten sich georgische Kinder dagegen unkomplizierter, freier und offener. Deutsche Kinder wahren lange eine gewisse Distanz. Sie wirken ernster, »fast wie kleine Erwachsene«, schildert die Kindergärtnerin. Während ihre georgischen Kameraden am liebsten spielen, helfen die deutschen Kinder leidenschaftlich gerne beim Vorbereiten des Essens.

Die Entwicklung der Medientechnik hat die Gesellschaft stark verändert. Es besteht noch wenig Sensibilität dafür, wie sich der Konsum auf die Kinder auswirkt. Fernseher, Computer und Mobiltelefone werden gedankenlos zu Verfügung gestellt. »Noch vor zehn Jahren hatten die Kinder viel mehr Phantasie«, beobachtet Marika, »die Bilder waren farbintensiver und voller Details, heute bestehen sie oft nur aus wenigen Linien, wie Karikaturen. Die irreale Welt aus dem Fernseher spiegelt sich auch im Spielverhalten wider. Ich versuche, ihnen soviel Raum wie möglich für Rollenspiele zu geben, um die vielen äußeren Eindrücke zu verarbeiten, und ich erzähle viel, um ihre Phantasie anzuregen.« Als bedeutende Veränderung fällt Marika der starke Eigenwillen auf: »Die Kinder wollen heute alles selbstständig schaffen und mitentscheiden, sie urteilen richtig kritisch über mich. Früher kam mir ein selbstverständliches Vertrauen entgegen, jetzt muss ich mir das erst erarbeiten!«

Ein Blick auf die lange Warteliste zeigt, dass eine räumliche Erweiterung dringend erforderlich ist. Vom Staat gibt es keine Unterstützung, der Kindergarten finanziert sich durch die Beiträge der Eltern und Spenden aus dem Ausland. Marika träumt davon, mit Hilfe von Patenschaften  Kinder aufzunehmen, deren Eltern das Geld nicht selbst aufbringen können. Die Gebühren betragen monatlich zwischen 70 und 110 Euro. Für die meisten Georgier ist das unbezahlbar. Das offizielle Durchschnittseinkommen liegt bei 150 Euro. Doch vielen Eltern ist der Kindergarten den finanziellen Aufwand Wert. Wenn man die Schwierigkeiten sieht, mit denen Georgien gegenwärtig konfrontiert ist: Nachbarschaftspolitik, Demokratisierungsprozesse und Wirtschaftswandel, dann fühlt man, wie wichtig es ist, die positiven Kräfte der Kinder zu stärken, für ihre gesunde Entwicklung und eine verantwortungsbewusste Gesellschaft. 

Link: www.georgia-insight.eu