Im Einklang mit den Vorfahren. Waldorfpädagogik in den peruanischen Anden

Thomas Wildgruber

»Papa Julio! Papa Julio!« Die Kleinen aus dem Kindergarten stürmen auf Julio Herrera zu, den Gründer des Sozialprojektes Q’ewar in den Anden. Julio holte mich mit seinem klapprigen VW-Bus in Cusco, der alten Inka-Metropole ab, um mich nach Andahuaylillas zum Q’ewar-Projekt zu bringen. Wir fahren durch Inka-Kulturland am Rio Vilcanota, an dessen fruchtbaren Ufern sich die Anwohner in Dörfern zu Produktionsgemeinschaften zusammengeschlossen haben: Die einen bauen Quinoa, eine traditionelle Hirseart, auf dem fruchtbaren Vulkanboden an, die anderen stellen Lehmziegel her. Die Luft ist klar und das Licht intensiv auf dieser Höhe.

Vor vierzehn Jahren begannen Julio und seine Frau Lucy Terrazas hier mit sieben Indio-Frauen aus dem Dorf eine kleine Produktion von Stoffpuppen: »Muñecas Waldorf«. Inzwischen sind dort 42 Frauen beschäftigt, die sich ihre Arbeitszeit selbst einteilen und nach Stunden mit einem für die Region guten Lohn bezahlt werden. Sie schreiben ihre Arbeitszeiten in ein Buch. Julio kann ihnen vertrauen, denn alle sind Mitglieder, das heißt Mitbesitzer von Q’ewar. Konzentriert und gelassen nähen, stricken und schneidern sie in freundlichen hellen Räumen. Bis Weihnachten wollen sie 500 Waldorfpuppen herstellen, die weltweit verkauft werden. Mit diesen Einnahmen wuchs das Projekt, das auf steilen Terrassen über dem Indio-Dorf liegt. Die Lehmhäuser liegen zwischen Blumenbeeten, Quinoa- und Weizenfeldern sowie Gemüsegärten verstreut. Ein kleines Paradies, zu dem auch der Waldorf-Kindergarten »Wawa Munakuy« (»Liebe für die Kleinen«) gehört, in dem 30 Kinder in zwei Gruppen aus dem Dorf kostenlos betreut werden.

»Das Selbstwertgefühl der Frauen, vor allem gegenüber den Männern, ist enorm gewachsen. Ihre Arbeit macht sie unabhängig, sie können selbst entscheiden, wann sie zu Hause sind und wann sie arbeiten. Und sie sind wahre Meisterinnen in der Handarbeit. Jede Puppe ist ein kleines Kunstwerk«, berichtet Lucy stolz.

Julio zeigt mir das Gelände und plant schon die Zukunft: »Auf diesen 5.000 Quadratmetern, wo Männer aus dem Dorf in harter Handarbeit gerade Terrassen aus Basaltstein errichten, wird eine Waldorfschule entstehen. Die Kinder werden an den öffentlichen Schulen schlecht behandelt. Am Jesuitenkolleg herrscht ein übertriebener Intellektualismus. Hier wollen wir mit Schule und Kindergarten eine Alternative bieten. Im März 2016, so planen wir, stehen hier die Häuser für die Primarstufe! Unser Ziel sind drei Kindergartengruppen mit je 25 Kindern und sechs Schulstufen für jeweils 30 Schüler. Die Lehrer werden aus der Umgebung kommen.« So galt mein Besuch auch der Ausbildung dieser Lehrer (dieses Mal in Menschenkunde und Formen­zeichnen), die in den vergangenen Jahren schon von Rosa Tasayco, einer erfahrenen Lehrerin aus der Waldorfschule in Lima, aufgebaut wurde.

Andinische Spiritualität und Anthroposophie ergänzen sich

»Glücklich leben« (»Kusi Kawsay«): Um in dieses Waldorf-Zentrum zu gelangen, muss man das Heilige Tal der Inkas besuchen, das Urubamba-Tal, dessen Fluss nach Machu Pichu hinunter fließt, wo an hohen Hängen die indigene Bevölkerung bis über 4.000 Meter hinaus Kartoffeln und Quinoa anbaut, und in Schamanenkursen die internationale New-Age-Gesellschaft sich Drogen zur Erleuchtung verabreichen lässt. Hoch über der kleinen Schule mit diesem Namen türmen sich die Gebirgszüge der Anden mit gewaltigen Terrassen, die in der Inka-Zeit unter einer Gebirgsfeste Tausende von Menschen ernährten. »Das wäre heute auch noch möglich«, sagt Rene Franco Salas, einer der Gründer dieser Schule für Indio-Kinder, »aber die Behörden wollen unser altes heiliges Land für die Touristen sauber halten.«

Rene, Schülervater aus einer der vier Gründerfamilien, erklärt das Leitbild der Schule: Andinische Spiritualität, die Kultur und der Ackerbaukalender der Vorfahren, das Wissen um die Mythen und die Geschichte – um diese Werte in der heutigen Zeit wieder zu beleben, dafür hätten sie die Schule gegründet. Die Bauernkinder aus den Bergdörfern müssen kein Schulgeld zahlen, Eltern aus der Stadt Pisac und Umgebung bezahlen gemäß ihrem Einkommen. 90 Kinder und Jugendliche zwischen drei und vierzehn Jahren besuchen heute den Kindergarten und zehn Klassen. Die Unterrichtsmethodik richtet sich nach der Waldorfpädagogik. Aus den Worten von Rene höre ich Scham und Stolz heraus: über die Demütigungen durch die spanischen Eroberer, die Arroganz der weißen Peruaner und der Kirche, und den Willen, sich daraus zu befreien. So erklären sie zum Beispiel das Kreuz des Südens, ein altes andinisches Symbol für das Männliche und Weibliche, mit der heiligen Geometrie der Inkas.

Rosaura Farfan Aguilar, die die vierte Klasse unterrichtet, bekräftigt: »Für mich sind dieser Lehrplan, die Methodik und der Epochenunterricht in Übereinstimmung mit dem ganzheitlichen Weltbild und der Willensschulung unserer traditionellen Erziehung.«

Rosaura unterrichtet gerade Formenzeichnen mit Flechtmustern und Heimatkunde. Sie benützt schon den Morgenspruch der oberen Klassen; für den rhythmischen Teil mit Liedern und Bewegung kommen die Musiklehrer. Die Kinder sind ruhig und diszipliniert – ungewöhnlich für Lateinamerika. An den Abenden nach dem Unterrichtstag nehmen alle Lehrer an einer Fortbildung in Kunstdidaktik teil. Hierfür gab es noch nie Kurse. Mit viel Phantasie gestalten sie zum Abschluss Themen aus der andinischen Mythologie. Kusi Kawsay, ein Nest mit glücklichen Kindern, die dem monotonen Stress der örtlichen staatlichen Schulen entkommen sind.

Zum Autor: Thomas Wildgruber war von 1979 bis 2011 Klassenlehrer und Kunstlehrer für die Klassen 1 bis 8, veröffentlichte das Handbuch »Malen und Zeichnen 1. bis 8. Schuljahr«, nun auch in englischer, chinesischer und spanischer Sprache, und gibt weltweit Fortbildungen in Methodik und Kunstdidaktik.