Inklusion in Armenien. Waldorfpädagogisches Zentrum in Eriwan eröffnet

Thomas Kraus

Armenien liegt im Kaukasus und ist mit 29.800 Quadratkilometern die kleinste der ehemaligen Sowjetrepubliken, etwa so groß wie Brandenburg. Von den drei Millionen Armeniern lebt ein Drittel in der Hauptstadt, geschätzte weitere sieben Millionen leben in der Diaspora außerhalb Armeniens, sehr viele in den USA. 90 Prozent der Landesfläche liegen mehr als eintausend Meter über dem Meeresspiegel. Das Gebiet ist stark erdbebengefährdet. 1988 fielen offiziell 25.000 Menschen einem Erdbeben zum Opfer und geschätzt eine Million verlor ihr Obdach. Die wirtschaftliche Situation ist ausgesprochen schwierig, die Arbeitslosigkeit liegt bei etwa 30 Prozent. Negativ auf die Entwicklung wirkt sich die hohe Abwanderung der jungen Bevölkerung ins Ausland aus. Kaum ein anderes Land ist finanziell so abhängig von Rücküberweisungen seiner im Ausland lebenden Bürger wie Armenien.

Es gibt keine verlässliche Statistik, wie groß der Anteil der Menschen mit Behinderung an der Gesamtbevölkerung ist. Die Schätzungen belaufen sich auf etwa 10.000 behinderte Kinder im Land. Viele Eltern verstecken ihre behinderten Kinder aus Scham vor der Öffentlichkeit. Nach dem Schulbesuch, der mit der neunten Klasse endet, gibt es keine weitere Versorgung oder Förderung mehr. Die Betroffenen leben in ihren Familien, in Waisenhäusern oder auf der Straße.

In den staatlichen Einrichtungen herrschen weitgehend untragbare Zustände. Durch den Druck internationaler Organisationen zeigen sich allerdings erste Veränderungen. Armenien hat zwar Ende 2010 die UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen ratifiziert, die Umsetzung allerdings noch kaum in Angriff genommen. Gesellschaftlich herrschen starke Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderungen.

Integration von Anfang an

In der Hauptstadt Eriwan befindet sich in einem staatlichen Gebäude die einzige Waldorfschule Armeniens. Sie wurde 1994 im Stadtzentrum gegründet und hat derzeit über 300 Schüler. Sie praktizierte von Anfang an Inklusion. Bisher wurden bis zu zwei Kinder mit Unterstützungsbedarf in die bestehenden Schulklassen integriert. Neben dem Schulunterricht werden sie einzeln gefördert.

Um der steigenden Nachfrage gerecht zu werden, suchte die Schule nach neuen Möglichkeiten der Unterstützung. Lehrer und Eltern bildeten sich im benachbarten Ausland fort und gründeten den Verein »Mayri«, um neue Projekte realisieren zu können. Der Verein hat sich zum Ziel gesetzt, durch eine adäquate Versorgung Entlastung und Hilfe anzubieten. So entstand die Idee, ein Tageszentrum zu gründen, das auf der Basis der Waldorfpädagogik arbeitet.

Mit Hilfe von Stiftungen aus den Niederlanden kauften und renovierten sie ein erdbebensicheres Gebäude in Zentrumsnähe. Die »Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners e.V.« haben im vergangenen Jahr eine Förderzusage des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) erhalten, die es ermöglicht, sechs Werkstatträume einzurichten. Im April 2014 wurden sie eingeweiht. Im Lauf der nächsten Jahre sollen bis zu fünfzig Kinder und Jugendliche das Zentrum und seine vielfältigen Angebote nutzen können. Das Gebäude befindet sich inmitten einer Wohngegend und versucht, gute nachbarschaftliche Beziehungen herzustellen.

Intensive Öffentlichkeitsarbeit, integrative Theaterauf­führungen, Konzerte, Praktika, Produktverkauf und Nachbarschaftshilfe sollen Begegnungen ermöglichen. Aus- grenzung und Diskriminierung will man frühzeitig entgegengetreten. Das Zentrum hat sich der Aufgabe verschrieben, in Armenien dafür zu sorgen, dass die Würde von Menschen mit Behinderung respektiert wird. Dieser erste Impuls hat eine Vorbildfunktion und wird hoffentlich einen Bewusstseinswandel im Land einleiten.

Zum Autor: Thomas Kraus ist Mitarbeiter der »Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners e.V.« für den Bereich Heilpädagogik und Sozialtherapie.