Medien

Integrierte Medienpädagogik am Beispiel Wikipedia

Angelika Lonnemann
Foto: © photocase_3174344

»Eines Tages klingelte es an der Tür. Jimmys Mutter öffnete und erblickte einen Vertreter – so nennt man Menschen, die Waren nicht in Geschäften verkaufen, sondern von Tür zu Tür gehen und die Kunden zu Haus besuchen. Damals war das noch verbreitet, heute kennt man es fast nur noch vom Thermomix …« Allgemeines Lachen. »Nun, der Mann vor Jimmys Tür, der nun hereingebeten wurde, hatte aber keinen Thermomix dabei, sondern eine Komplettausgabe der berühmten World Book Encyclopedia. Weiß jemand von Euch, was eine Enzyklopädie ist?«

Viele Neuntklässler:innen wissen es nicht und so muss eine alte Brockhausausgabe in zwölf Bänden als Anschauungsmaterial dienen. Die Schüler:innen blättern in dem Lexikon, während ihre Lehrerin Karoline Kopp erklärt, dass das World Book, das Jimmys Mutter dem Vertreter vor rund fünfzig Jahren abkaufte, viel mehr Bilder enthalten hatte als der Brockhaus und den Jungen bereits als Kind so sehr faszinierte, dass er ständig darin las.

Die Erzählung der Biografie von Jimmy Wales ist der Einstieg in eine Unterrichtseinheit zur Online-Enzyklopädie Wikipedia. »Ich werde oft gefragt, warum etwas so Bekanntes und Alltägliches wie Wikipedia im Unterricht behandelt wird – schließlich kennt es jedes Kind und alle benutzen es. Aber genau da liegt das Problem: Die meisten Menschen – insbesondere Schüler:innen – haben nie hinterfragt, wie Wikipedia eigentlich funktioniert, wie die Informationen dort hineinkommen und wer sie prüft. Ganz im Gegenteil, teilweise werden ganze Passagen aus Wikipedia einfach so in eigene Arbeiten hineinkopiert – und das oft auch noch ohne Quellenangabe«, erklärt die Medienpädagogin Kopp, die seit 2019 an der Freien Waldorfschule Landsberg arbeitet. Wie wichtig saubere Recherche und wie schwer das genaue Prüfen von Informationen ist, weiß die studierte Volkswirtin und ausgebildete Redakteurin allzu gut. Vor ihrem Studium der Waldorfpädagogik an den Lehrerseminaren in München, Stuttgart und Kassel arbeitete sie für verschiedene Nachrichtenagenturen, Zeitungen und Pressestellen. Zuletzt machte sie an der Freien Hochschule Stuttgart die Weiterbildung zur Medienpädagogin. »Dieser Bereich ist an Waldorfschulen immer noch dünn besetzt und ich bin froh, dass ich einiges, was ich aus meinem ersten Beruf mitbringe, hier weitergeben kann«, sagt Kopp.

Lernen durch eigenes Tun

Wikipedia-Verbote oder Zwang zu Analogrecherche sind aus Sicht von Kopp allerdings keine Antwort auf den oft mangelhaften Umgang mit Informationen. »Wie in allen Bereichen unseres Unterrichtes können wir uns auch hier fragen: wie kann die Technik einerseits durchschaubar gemacht werden und andererseits arbeitend erfahren und in ihren positiven Aspekten sinnvoll nutzbar gemacht werden? Meine Antwort ist: Schüler:innen müssen selbst zu Wikipedia-Redakteur:innen werden.«

Gesagt getan: Nach der Biografie des Wikipedia-Gründers geht es für die Schüler:innen um die Struktur der Wikiplattform, die Bedeutung von Creative Commons, Analysen von Diskussionsseiten und Nutzerprofilen, Beobachtung von Versionsgeschichten und eine Vokabelsammlung mit seltsamen Worten wie »Sockenpuppe«, »Vandale« oder »Spielwiese«. »Nach zwei bis drei Unterrichtsein­heiten wissen die Schüler:innen meist mehr über Wikipedia als das gesamte Kollegium. Dann geht es aber eigentlich erst richtig los …«

Kollaboration mit Cryptpad

Denn nach der Einführung in die Plattform und dem Austesten und Analysieren der grundlegenden Funktionen bekommen die Schüler:innen den Auftrag, einen unvollständigen Wikipedia-Artikel zu ergänzen und zu verbessern. Dazu arbeiten sie in Gruppen mit kollaborativen Tools wie Kanban-Boards und gemeinsamen Textdokumenten über Cryptpad zusammen – eine sichere und verschlüsselte Alternative zu Google Docs, die dann von den Schüler:innen auch für die Strukturierung anderer schulischer Aufgaben und längerfristigen Arbeitspro­zesse wie die Biografiearbeit genutzt werden können.

»Hilfreich ist es, wenn man zum Einstieg in die Redakteursarbeit bei Wikipedia einen Artikel über eine Sehenswürdigkeit in der eigenen Umgebung finden kann, den es dann zu verbessern gilt. Denn um Informationen in einen Wikipedia-Artikel einzufügen, kann man sie ja schlecht auf Wikipedia selbst suchen, sondern muss losziehen und andere Wege der Recherche finden. Wir haben das einmal mit einem alten Landsberger Stadttor gemacht. Da kann man die Schüler:innen beispielsweise in die Stadtbibliothek, das Touristenbüro und das Stadtarchiv schicken – oder auch gemeinsam einen Ausflug zu dem zu beschreibenden Objekt machen, um etwa neue Fotos zu machen, die den Wikipedia-Nutzern als Creative Commons zur Verfügung gestellt werden. Denkbar wären auch Artikel über berühmte Personen aus der eigenen Umgebung oder aber eigene Interessensgebiete der Schüler:innen, auf denen sie sich gut auskennen und über Recherchematerial verfügen«, so Kopp.

Wikipedia als Recherchewerkzeug nutzen

Besonderen Wert legt Karoline Kopp darauf, dass die Schüler:innen die gesammelten Informationen genau dokumentieren und strukturieren. Auch die Quellen sollen genau erfasst werden: »Wenn man einen Lexikoneintrag schreibt, dann kommt es natürlich sehr darauf an, dass alles stimmt – inhaltlich, aber auch formal. Das reicht von richtigen Überschriften über Rechtschreibfehler bis hin zu sinnvoller Gliederung der Information und korrekten Quellenangaben. Wenn da etwas nicht stimmt, wird ein Wikipedia-Sichter die Änderungen einfach nicht annehmen oder eine Diskussion darüber auf der Artikel-Diskussionsseite starten.«

Überhaupt seien die Einzelnachweise und die Verlinkungen auf Wikipedia ein einfaches, aber mächtiges Werkzeug zum Auftakt jeder Recherche, betont die Pädagogin. Wer in ein neues Thema starte, sei gut beraten, auf Wikipedia ein paar grundlegende Informationen einzuholen und über die Einzelnachweise und Literaturangaben unter jedem Artikel zu ersten Hinweisen auf Recherchematerial zu gelangen.

Die Unterrichtseinheit schließt ab mit einer Gegenüberstellung der Stärken und Schwächen von Wikipedia gegenüber den von Verlagen herausgegebenen und professionell redigierten Lexika und einer Reflexion der Schüler:innen über ihre Erfahrungen. »Auch wenn ich Wikipedia nicht oft benutze, fand ich es sehr interessant und blicke nun anders auf die Informationen, die man in dem Onlinelexikon finden kann«, sagte eine Schülerin der neunten Klasse rückblickend auf die Epoche. Einige Schüler:innen merken an, dass sie zuerst gar keine Lust auf eine Beschäftigung mit Wikipedia hatten. »Ich fragte mich schon, warum man das im Unterricht so durchkauen muss. Bei Wikipedia was nachschauen kann doch jeder ...  Allerdings war es dann doch sehr erstaunlich zu sehen, wieviele Leute an Wikipedia arbeiten und wieviel Zeit das kosten muss, so ein Lexikon zu machen. Ich hab mir voher nie überlegt, wer dahinter steckt«, sagte einer von ihnen.

Ohne Vorleistung wird es nichts

Auf die Frage, was den Anstoß gegeben habe, Wikipedia in dieser Form im Unterricht zu behandeln, verweist Karoline Kopp auf den Praxiskurs ihrer Medienpädagogenausbildung am von-Tessin-Lehrstuhl der Freien Hochschule Stuttgart. »Gutes Einstiegsmaterial für Lehrkräfte bietet auch die Plattform Klicksafe, die ein ganzes Modul zu Wikipedia im Unterricht kostenlos zum Download zur Verfügung stellt. Allerdings ist auch hier Grundvoraussetzung für ein Gelingen: Die Lehrkraft muss sich erst einmal selbst auf den Weg machen, sich ein Benutzerkonto bei Wikipedia einrichten, die Strukturen erkunden und eigene Artikel editieren oder gar neu erstellen. Ohne diese Vorleistung wird es nichts werden.«

Die Unterrichtseinheit Wikipedia braucht aus Sicht von Kopp kein eigenes Fach »Medienkunde«, sondern lässt sich in nahezu alle Unterrichte sinnvoll integrieren – im Rahmen der Biografiearbeit sei sie beispielsweise gut im Deutschunterricht aufgehoben. Wenn es um andere Inhalte gehe, biete sich aber so ziemlich jedes Fach für eine entsprechende Rechercheeinheit an.

Kommentare

Es sind noch keine Kommentare vorhanden.