Kann’s Waldorf besser?

Fabian Warislohner

»Würden Sie Freunden empfehlen, ihr Kind auf die Waldorfschule zu schicken?«, fragte Wolfgang Krach, Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung, Rudolf Tippelt, Erziehungswissenschaftler an der Ludwigs-Maximilians-Universität München, und bekam die prompte Antwort: »Ja. Waldorf heißt Persönlichkeitsbildung und Urteilsbildung.« Tippelt setzte hinzu: »Ich würde jedoch auch nicht davon abraten, auf eine Regelschule zu gehen.« Wer wünsche, dass sein Kind »mit den Untiefen der Gesellschaft eher nichts zu tun hat«, dem sei die Waldorfschule durchaus zu raten. Ein Raunen ging durch den gut gefüllten Hörsaal, wo sich dem Anschein nach am 29. April 2019 mehr Waldorflehrer und -eltern als angehende Pädagogen eingefunden hatten.

Anspruch und politische Wirklichkeit

Mit 250 Schulen in Deutschland und viermal so vielen weltweit sei Waldorf ein »Erfolgsmodell« hob Jost Schieren, Professor für Pädagogik an der Alanus Hochschule, hervor. Einige Schulen seien zudem schon auf dem Weg neue Formen zu suchen – etwa bei Fragen der Finanzierung, damit die Schulen eher einen Querschnitt der Gesellschaft abbilden. Schieren setzte dabei auch auf den Bund der Freien Waldorfschulen, der Beispielschulen finanziell unter­stützen solle.

Hannah Imhoff, geladen als ehemalige Waldorfschülerin, wurde schnell Krachs Ansprechpartnerin für die Frage der Realität an den Schulen. Die ihrige sei »unübersehbar elitär« gewesen, ein »Luxus«. Und es dürfe angezweifelt werden, ob das für die Gesellschaft »so viel bringe«. 

Damit eine Waldorfschule überhaupt in Frage komme, bräuchten die Eltern erst einmal eine Verbindung zur Anthroposophie. An ihrer Schule vermisste sie Möglichkeiten der »Partizipation« – dies gelte jedoch auch für andere Schulen, weswegen sie sich als Stadtschülersprecherin engagierte.

Doch gute Bildung stehe oder falle mit dem Lehrer, unabhängig von der Schulform, in diesem Punkt war sich Imhoff sicher.

Potenzialentfaltung 

Ziel der Waldorfpädagogik sei es, dass Kinder sich gesehen und verstanden fühlen – sonst verkümmerten ihre Potenziale, so Valentin Wember, langjähriger Waldorflehrer, der inzwischen weltweit Waldorfschulen berät. Wo dies auch nur bei einem Kind nicht der Fall sei, habe er als Lehrer versagt. Deshalb müsse der Lehrer die »Natur des Menschen und seine Stellung in der Welt« studieren und aus dieser Erkenntnis handeln. Moderator Krach gefiel Wembers knappe Zusammenfassung der waldorfpädagogischen Zielsetzung: »Optimale Potenzialentfaltung aus größtmöglicher Menschen- und Welterkenntnis.« Dafür sei das Studium des Werkes Steiners unerlässlich. Ohne dessen Erkenntnistheorie und Menschenkunde verkomme Waldorf zu einer reinen »Rezeptpädagogik«. Aber von niemandem könne verlangt werden, sich als Anthroposoph zu bekennen. Dies sei eine individuelle Lebensentscheidung und stehe in der Freiheit jedes einzelnen. 

Die Anthroposophie könne aber auch zum »Stolperstein« werden: Eine einseitige Lesart fand Schieren sowohl bei Anthroposophen wie bei Kritikern. Anthroposophie »als Dogmatik« sei jedoch wissenschaftlich nicht »erschließungsfähig«. Allgemein ginge es darum, den Theoriebestand von Waldorf neu fruchtbar zu machen und Steiner zu kontextualisieren. Gefragt nach der wissenschaftlichen Überprüfbarkeit der Ansätze Steiners fand Wember deutliche Worte: Es komme eben nicht so häufig vor, dass ein »spiritueller Lehrer« wie Steiner auf die Erde komme und seine Ideen einbringe. Aus wissenschaftlicher Sicht seien dies zunächst zwar nur Hypothesen, doch die Zeit werde diese zunehmend zu bestätigen wissen, ist sich Wember sicher. Tippelt verwies diesbezüglich auf die vielen empirischen Untersuchungen, für die sich Waldorfschulen in den vergangenen Jahren geöffnet haben; Waldorf gelte inzwischen als »am besten erforschte Reformpädagogik«. 

Grundrecht auf Selbsterziehung

Schieren führte aus: Der Erkenntnistheorie Steiners folgend sei der Mensch eben auch Schöpfer der Wirklichkeit. Aus diesem Gedanken gingen viele Innovationen in Gesellschaft und Schule hervor: Es gebe keine Selektion nach Leistung, die Fächer würden nicht hierarchisiert, die Leiblichkeit habe eine Bedeutung neben der Intellektualität, Gemeinschaftsbildung stehe im Vordergrund – schließlich gehen die Schüler durch die Klassen eins bis zwölf ohne Sitzenbleiben. Zunehmend nehmen Waldorfschulen auch Flüchtlinge auf. Tippelt ergänzte, dass die Waldorfpädagogik gerade durch die Stärkung jedes Einzelnen eine gute Basis darstelle, den aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen zu begegnen. 

Ein Zuhörer ergänzte, dass Steiner mit der ersten Schulgründung im Angesicht des Ersten Weltkrieges auch eine Friedenspädagogik schaffen wollte. Wember hatte schon zu Beginn zu bedenken gegeben: »Was wäre eine gute Vorbereitung für die Jahre 1933 bis 1945 gewesen?«

Gerade heute, in Zeiten der Anti-Individualisierung, ergänzte Schieren, sei Waldorf eine Pädagogik, die die Ich-Erfahrung ins Zentrum stelle. Dies betonte auch ein anwesender Waldorflehrer: Wirkliche Erziehung sei nach Steiner immer Resultat der Selbsterziehung des Menschen: So sei das Recht auf Bildung als Grundrecht zu fassen, sich selbst zu erziehen – »damit ist Ernst zu machen«. 

Die Freiheit auf den Tisch 

Dann stellte sich die Frage, ob das Schulsystem weiter staatlich zu organisieren sei. Wember forderte: Nach der »Gedankenfreiheit« und »Souveränität« der Bevölkerung sei nun die Zeit gekommen, dass der Staat die Schulen aus der Hand gebe. Schon Steiner habe verhindern wollen, dass über politische Einflussnahme die Schüler »passend« für die Wirtschaft gemacht würden. Da die Schulbildung jedoch nach wie vor in staatlicher Hand liege, sei das Programm der Waldorfschulen immer auch ein Kompromiss. So sei gerade die Frage der Führung einer Schule relevant. Gefragt, wie es damit heute stehe, gab Wember zur Antwort: Das haben die Schulen selbst zu entscheiden. Der Bund der Freien Waldorfschulen könne nichts von oben durchdrücken. 

An diesem Abend ging es nicht nur um eine Standortbestimmung, sondern um eine selbstkritische Selbstbefragung. Es geht vor allem darum, mit der Selbsterziehung des Menschen ernst zu machen. Dies als Kernsatz einer Pädagogik bringt zum einen die radikale Freiheit des Einzelnen auf den Tisch. Zum anderen gilt es, dies als nicht nur politische, sondern auch pädagogische Realität zu vermitteln, ohne auf althergebrachte Rezepte zurückzugreifen.

Zum Autor: Fabian Warislohner ist Student der Philosophie an der Cusanus Hochschule.

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