Kindergarten nach Perestroika und Glasnost

Peter Lang

Als Michail Gorbatschow Präsident der Sowjetunion wurde, war die Situation in der Sowjetunion mehr als unbe­friedigend. Die Landwirtschaft war nicht in der Lage, die Bevölkerung hinreichend zu versorgen, die technologische Entwicklung hinkte hinterher und die allgemeine Korruption sowie die Schattenwirtschaft grassierte. Gorbatschow leitete eine gesellschaftliche Umgestaltung, die »Perestroika« ein. Dazu gehörte die Aufhebung von Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit. »Glasnost« (Offenheit, Transparenz) beschleunigte den Demokratisierungsprozess enorm.

Durch die Erleichterung der Reisemöglichkeiten für Staatsbürger und Ausländer, durch mehr Meinungs- und Informationsfreiheit strömten damals Ideen einer freiheitlichen Erziehung nach Russland und russische Staatsbürger konnten Waldorfeinrichtungen sowie Erzieher- und Lehrerseminare im Westen besuchen. Ein dynamischer, intensiver Prozess begann, das Bedürfnis nach Waldorfpädagogik, nach Ausbildung wuchs. Waldorfpädagogen aus Deutschland und anderen Ländern wurden in Russland aktiv. In diese Situation hinein und allen widrigen äußeren Um­ständen zum Trotz gründeten aktive Menschen aus Russland und Deutschland in Moskau 1991 ein Waldorfkindergartenseminar.

Waldorfkindergartenseminar in Moskau

Unter den Reisenden war auch Regina Hoeck, Diplom-Pädagogin und Waldorfkindergärtnerin aus Überlingen am Bodensee. Sie spricht russisch, war schon in Süd-Osteuropa als waldorfpädagogische »Entwicklungshelferin« unterwegs. Schnell wird Moskau ihr neuer Wohnsitz. 1991 übernimmt sie die Leitung des Seminars – eine jahrelange und erfolgreiche Arbeit nimmt ihren Anfang. Russische Kollegen kommen hinzu. Vor wenigen Jahren ging die Leitung auf Sevtlana Efremova über, die von Elena Gramotkina unterstützt wird. Anfangs kamen regelmäßig Dozenten aus Deutschland und anderen Ländern. Die Internationale Vereinigung der Waldorfkindergärten und der Bund der Freien Waldorfschulen unterstützen nach Kräften die Aus- und Fortbildung von Erzieherinnen und Lehrern. Das Moskauer Seminarkollegium ist in den letzten Jahren so kräftig gewachsen, dass nur noch gelegentlich Kollegen aus dem Ausland kommen.

Zukunftssorgen trotz erfolgreicher Arbeit

Viele Widrigkeiten seitens der Behörden, finanzielle Nöte, politische Restriktionen machten und machen den Aktivisten in Moskau das Leben nicht einfach. Doch es kam auch Unterstützung. Vera Lapatina, Leiterin einer großen Moskauer Behörde, der das Kindergartenwesen unterstand, förderte das Seminar nach Kräften, obwohl sie im alten sowjetischen System an die Spitze gelangt war. Im Jahr 2000 begann die Zusammenarbeit mit der »Russischen Akademie zur Fortbildung und Umschulung der Pädagogen des Bildungswesens«, im Jahr 2001 wurde der »Methodische Leitfaden für den Waldorfkindergarten« vom Bildungsministerium der Russischen Föderation anerkannt.

Das Seminar in Moskau hat bis heute in seinen dreijährigen Kursen über 300 Pädagogen zu Waldorfkindergärtnern ausgebildet. Landesweit gibt es zur Zeit 260 Waldorfgruppen, zum größeren Teil innerhalb staatlicher Kindergärten, aber auch als eigenständige Waldorfkindergärten.

Das Moskauer Seminar bietet pädagogische Kurse für Eltern an, eine jährliche, mehrtägige Konferenz der Waldorferzieher dient der Fortbildung und regelmäßig nehmen russische Pädagogen an internationalen Tagungen teil.

Das Waldorfkindergartenseminar in Moskau ist längst zu einem beachteten und prägenden Teil einer zukunftsweisenden Pädagogik in Russland geworden. Aus Anlass seines 21. Geburtstages veranstaltete es Ende Juni einen öffentlichen, pädagogischen Kongress zum Thema »Die Zukunft unserer Kinder gestaltet sich heute«. Die Moskauer Waldorfschule Nr. 1060 im Zentrum der Stadt stellte ihre Räume zur Verfügung, über 140 Menschen, sogar aus dem fernen Sibirien reisten an. Ein gelungener Kongress, der nach innen und außen Wirkung zeigt.

Mit wachsender Sorge beobachten die Waldorfpädagogen – und nicht nur diese –, wie die Regierung Putin Stück für Stück elementare Grundrechte – Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Demonstrationsrechte – einschränkt oder abschafft und Mitarbeiter von NGOs, die aus dem Ausland finanziert werden, zu Agenten erklärt. Zur Zeit gibt es für die Arbeit des Moskauer Seminars und in den Waldorfkindergärten noch keine direkten Beschränkungen, aber auch hier blickt man mit Sorge in die Zukunft.

Zum Autor: Peter Lang ist Dozent für Pädagogik, Psychologie und Waldorfpädagogik und Vorstandsmitglied der Vereinigung der Waldorf-Kindertageseinrichtungen Baden-Württemberg e.V.