Mit Waldorfschülern über Waldorfschule reden

Julia Selg

Es ist Montag, der 25. März 2019. Das Audimax der Uni Freiburg steckt voll gesammelter Energie. Die Oberstufen von sieben Waldorfschulen der Region füllen den Raum: 650 Schüler. Eine konzentrierte Stimmung herrscht: Gerald Häfner und Peter Selg sprechen zum Thema »Freiheitsimpuls und Waldorfschule«, und sie treffen damit offenbar ein Bedürfnis vieler Schüler.

Mit dem neuen Format eines regionalen, schulübergreifenden Waldorf-Oberstufentages startet an diesem Morgen ein Versuch, mit Jugendlichen Fragen nach dem Woher und Wohin der Waldorfschule offen zu bewegen: Was wollte Rudolf Steiner 1919 eigentlich erreichen? Und wozu ist Waldorfschule im heutigen gesellschaftlichen Spannungsfeld gut? Was tut die Waldorfschule, um Zukunft zu gestalten? Neu ist auch, dass an diesem Tag nicht die Schulen selbst die Veranstalter sind, sondern ein Initiativkreis der Anthroposophischen Gesellschaft in Freiburg, der aus Anlass von »Waldorf 100« diese und auch noch andere Veran­staltungen organisiert – eine öffentliche Vortragsreihe, gemeinsame Kollegientage für die drei Freiburger Waldorf­schulen. Die Leute von »Mensch?! Vielfalt Anthroposophie in der Region Freiburg« haben es sich in diesem Jubiläumsjahr der Waldorfschule zur Aufgabe gemacht, das anzubieten, wofür den einzelnen Schulen neben dem fordernden Alltag die Kapazität fehlt. »Die Schulen haben sich sehr gefreut – und es arbeiten tatsächlich alle Kollegien von Emmendingen bis Müllheim mit uns zusammen und haben heute ihre Oberstufen geschickt!«, so Christine Lempelius vom Team der Organisatoren. Auch Schüler der Michael-Schule für Erziehungshilfe sind gekommen sowie einige Schüler mit Assistenzbedarf von der heilpädagogischen Schule Haus Tobias.

Erst als die 650 Jugendlichen durch einen Überraschungsauftritt des Zirkustheaters VoiliVoilà blitzwach geworden sind, erhalten die Referenten das Wort. Gerald Häfner, lange Jahre Abgeordneter der Grünen im Bundestag und im Europaparlament, setzt bei »Fridays for future« an. Er spricht von der Notwendigkeit einer Zivilgesellschaft, in der mündige Bürger selber miteinander verhandeln, wie sie leben und die Lebensgrundlagen erhalten wollen. »Hier hatte ich ein Aha-Erlebnis«, so ein Schüler der 12. Klasse. »Auch wenn Gerald Häfner es gar nicht so genannt hat  – ich habe plötzlich verstanden, dass es außer Kapitalismus und Kommunismus etwas Drittes geben kann, und dass Rudolf Steiner das wollte.«

»Die Welt verändern – Rudolf Steiner und der Impuls zur Gestaltung einer menschlichen Welt« lautet der Titel des Vortrags. Der Impuls ist hier im vollen Audimax mit Händen zu greifen. Zivilgesellschaft gestalten – diese Schüler können es tun. Ihnen fallen ohne Zögern Fragen ein, das Mikrophon wandert durch den Saal. Auch zweifelnde Fragen sind dabei: »Haben wir überhaupt noch eine Chance?« Gerald Häfner kommt kaum in die Pause. Er ermutigt, schließt mit Erich Kästner: »Es gibt nichts Gutes, außer man tut es!«

Mit Peter Selg, der in Witten und Alfter lehrt und anthroposophische Grundlagenforschung betreibt, aber auch ausgebildeter Jugendpsychiater ist, richtet sich der Fokus auf die Waldorfschule selbst. Große Worte befragt er auf ihre Substanz hin. »Der Freiheitsimpuls der Waldorfschule«, was soll das heißen? Was ist Freiheit eigentlich? Es gibt die Illusion von Freiheit – wenn man in Wirklichkeit Zwängen gehorcht, sei es den Lust- und Unlustzwängen in der eigenen Seele oder solchen Zwängen, die clevere Wirtschaftsmächte uns als Freiheit verkaufen. Es gibt aber auch die Illusion der Unfreiheit: Freiheit und Verantwortlichkeit verschwinden im scheinbar rationalen Licht eines Paradigmas, das den Menschen auf neuronale Verschaltungen reduziert. Doch »Erziehung zur Freiheit« ist auch an der Waldorfschule leichter gesagt als getan. Schule als Zivilgesellschaft im Kleinen, deren Mitglieder – Lehrer, Eltern, Schüler – zusammen diese Gemeinschaft gestalten: Gibt es das hier wirklich schon?

Das gibt es, bin ich in diesem Augenblick überzeugt, denn die Waldorfschüler in diesem Hörsaal tun es gerade. Sie nehmen sich mit spürbarer Befriedigung als große Gemeinschaft von Oberstufenschülern wahr. Sie diskutieren in Vierergruppen – neu gemischt aus Schülern, die sich bisher nicht kannten. Sieben Schüler erläutern einer Mitarbeiterin der Badischen Zeitung, was für sie Waldorfschule ist. Die junge Journalistin staunt, sie hört viel über Klassengemeinschaft und erlebt einige sehr mündige Individuen. Und noch immer dreißig Schüler kommen am Spätnachmittag zum freiwilligen Abschlussgespräch und geben den Referenten und dem Team vom Initiativkreis »Mensch?!« ein auch mal kritisches, aber insgesamt sehr positives Feedback.

Ein Thema schält sich in dieser Runde heraus: das der Mitgestaltung. Wirklich ernstgenommen zu werden, wirklich etwas verändern zu können, das fehlt den Schülern, die sich hier äußern, an ihren Schulen. Die wenigsten erleben in vier Jahren Oberstufe, dass ihr Einsatz Folgen zeitigt. Auch an Schulen, die einen »Schulentwicklungsprozess« betreiben, gibt es Frustration unter engagierten Schülern. Einer der zwei anwesenden Lehrer ist betroffen und versucht eine Antwort. Man habe diese Schüler nicht abwimmeln wollen; man habe im Kollegium mit sich gerungen, aber die Schüler nicht mit Verantwortung überlasten wollen. Und überhaupt: Ab welchem Alter könnten Schüler denn Mit­verantwortung für die Schule tragen? Ab fünfzehn oder erst ab achtzehn? Das müsse man individuell entscheiden, antwortet ein Schüler, manche könnten es schon. Er hat recht. Der Verlauf dieses Tages hat es gezeigt: Er und viele andere können es schon.

Und bei den Veranstaltern entsteht die Idee, nächstes Mal von Anfang an interessierte Schüler einzubeziehen.

Zur Autorin: Dr. Julia Selg ist Kunsthistorikerin und Slavistin und arbeitet als Lektorin und Übersetzerin.