Neue Ehrlichkeit

Mathias Maurer

Neu war, dass der bundesweite jährliche Waldorfkongress von sieben Einrichtungen – u.a. Bund der Freien Waldorfschulen, Pädagogische und Medizinische Sektion am Goetheanum, Vereinigung der Waldorfkindergärten, Bundesverband anthroposophisches Heilwesen antropoi bestritten wurde. Neu war auch der interdisziplinäre Austausch von Eltern, Lehrern, Ärzten, Kindergärtnern und Schülern über die herausfordernden Aufgaben unserer Zeit in der Erziehung, Gesundheit und Bildung der Kinder und Jugendlichen. Das Themenspektrum der angebotenen Foren und Arbeitsgruppen reichte von ADHS, Heileurythmie und sozialer Landwirtschaft, von Eltern- und Schülersein bis zu meditativer Menschenkunde, Klassenlehrerzeit und Sprachpflege. 

Michaela Glöckler von der Medizinischen Sektion am Goetheanum sprach in ihrem Eröffnungsvortrag von den Voraussetzungen, die ein Kind in seiner Entwicklung fördern und stützen: die bedingungslose Akzeptanz und die positive Verstärkung dessen, was in ihm werden will. Selbst das schwierigste Kind wird etwas schaffen, wenn es mit warmem Interesse anerkannt und begleitet wird. Rhythmus, Umweltgestaltung und Ernährung spielen dabei eine entscheidende Rolle und wirken auf die verschiedenen Wesensglieder des heranwachenden Menschen kränkend oder gesundend. Glöckler forderte die Rückkehr zur 6-Tage-Woche und zur 4-Wochen-Epoche, eine Besinnung des Pädagogen auf seine Vorbildfunktion in Bezug auf die Ich-Entwicklung der Kinder und Jugendlichen, um sie zu einem wirklich selbstbestimmten Leben zu führen. Krankheit, so Glöckler, tritt ein, wenn das Rhythmische System des Menschen in seiner Ausgleichfunktion Nerven-Sinnes- und Stoffwechsel-Prozesse nicht mehr integrieren kann.

Die thematische Klammer schloss der Abschlussvortrag von Claus-Peter Röh von der Pädagogischen Sektion am Goetheanum, in dem er Gesundheit als etwas Nichtstatisches, Prozesshaftes beschrieb. Voraussetzung für eine gesunde Entwicklung des Kindes ist die Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsbereitschaft des Pädagogen, der künstlerische Umgang mit der seelischen Verfasstheit des Kindes und eine aus dem seelischen Erleben des Kindes heraus entwickelte Begriffsbildung. Das Rhythmische System ist ein »organischer Barometer« (Steiner) dafür, ob Kopf- und Stoffwechselorganisation, Denken und Wollen in einem gesunden Verhältnis stehen. Ausführlich ging Röh auf die Kinderbesprechung als einen Schlüssel zur Eröffnung pädagogisch-therapeutischer Hilfestellung ein.

Dazwischen lag ein reiches Angebot an Vertiefungsmöglichkeiten: Zum Beispiel »Die kindliche Entwicklung aus Sicht des Kinderarztes und des Kinder- und Jugendpsychiaters«. Uwe Momsen und Arne Schmidt beantworteten Fragen zur »Modediagnose« ADHS, zu Helikopter-Eltern, Pendelkindern, Inklusion, Früheinschulung und Kaiserschnitt. Sie forderten die Einführung einer Elternschule für die Oberstufenschüler der Waldorfschulen.

Oder zum Beispiel »Das Kind im zweiten Jahrsiebt«, wo es um die Klassenlehrerzeit an Waldorfschulen ging, die ursprünglichen Intentionen Steiners, die heutige Situation und um ihre kritische Diskussion (»Klassenlehrerregime«) in den Erziehungswissenschaften. Walter Riethmüller vom Berliner Waldorflehrerseminar führte aus, dass der Autoritätsbegriff im zweiten Jahrsiebt insofern falsch verstanden würde, als dass nicht ein autoritärer Unterrichtsstil gepflegt werden solle, sondern dass sich der Lehrer so neben das Kind stellt, dass es beginnt, sich selbst zu erziehen. Tomáš Zdražil von der Freien Hochschule Stuttgart betonte, dass insbesondere die Klassenlehrerzeit einen sicheren Anker für die von der Zersplitterung der sozialen, besonders der familiären  Bezüge bedrohten und von den sozialen Medien in die Zerstreuung getriebenen Kinder darstelle. Hier könne Waldorfpädagogik ausgleichend wirken. Immer deutlicher werde auch die Entwicklung, dass ein Klassenlehrer zunehmend der Unterstützung von Klassenhelfern bedürfe.

Der Kongress zeichnete sich durch den intensiven und fruchtbaren Austausch brennender Zeitfragen quer durch die professionellen Disziplinen, Lebens- und Arbeitsfelder aus. Die Offenheit und Ehrlichkeit, in der Erlebtes dargestellt wurde, brachte das übliche Gespräch über ein Thema vom Kopf in die Herzen. Die neue Kongresskultur der Brückenschläge wird Anfang Oktober 2016 in Berlin weitergeführt.