In Bewegung

«Niemandsland – Warten»

Sibylle Stier

Unter dem Motto «Wenn ihr nicht zu uns dürft, dann kommen wir zu euch», fand im März 2022 der erste Teil eines außergewöhnlichen Theaterprojekts mit Schüler:innen der Freien Waldorfschule Rosenheim statt. Seit mehreren Jahren bin ich im Bereich Musik und Theater in Krisengebieten unterwegs. Im Rahmen dieser Arbeit haben bereits 2015, 2017 und 2019 Begegnungen zwischen der Waldorfschule Rosenheim und Palästina stattgefunden. Mein Anliegen ist es, Schüler:innen neugierig zu machen für Projekte, die man gemeinsam entwickelt. Ich möchte zeigen, dass man aus einer Idee heraus Prozesse gestalten kann, die die eigenen Lebenseinstellung in Frage stellt und zum Neudenken anregt.

Angeregt durch Kilian Kleinschmidt, einen ehemaligen Mitarbeiter des Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR), habe ich das Projekt mit Schüler:innen und Geflüchteten in Tunesien begleitet. «Niemandsland – Warten» – ist der Titel dieses gemeinsamen Dokutheaterprojekts mit Schüler:innen der Freien Waldorfschule Rosenheim und Migrant:innen, denen der Weg nach Europa verschlossen bleibt.

Im vergangenen März fand der erste Teil dieser Begegnung in Tunesien statt, wo die Rosenheimer Schüler:innen eine Woche lang Choreographien in unterschiedlichster Form entwickelten, viele Gespräche führten und vielen Geschichten lauschten, denen sie meist fassungslos gegenüberstanden.

«Wie kann es sein, dass Menschen nur auf Grund ihrer Hautfarbe, auf Grund ihrer Herkunft eine Ausreise nach Europa unmöglich gemacht wird? Wie kann es sein, dass junge Afrikaner mit unendlich vielen Träumen und Talenten keinerlei Chance bekommen, in Europa eine Ausbildung zu machen, weil die Einreisebedingungen kaum zu erfüllen sind? Wie können wir mit dieser Ungleichheit, dieser Ungerechtigkeit leben?» Das sind Fragen, die die Schüler:innen aus Rosenheim seitdem bewegen.

Wieder zuhause wurde allen Beteiligten schnell klar, dass dieses Projekt noch nicht zu Ende sein durfte. Zu dringlich waren die Fragen, zu unbegreiflich die Geschichten und Lebensumstände, zu inakzeptabel der Umgang der Politik mit dem Thema. Die tiefe Betroffenheit suchte sich eine Plattform, über die man von den Menschen, die in Tunesien gestrandet sind, berichten kann.

So entwickelten die Schüler:innen unter meiner Leitung Theaterszenen, die sich mit dem Thema «Flucht», «Chancengleichheit» und «Menschliche Ungerechtigkeit» befassten. Grundlage bildeten dabei die internationalen Menschenrechte, die bei genauerer Betrachtung in keinem dieser Fälle eingehalten werden. . Der junge Filmemacher Manuel Linke hat die Reise in zahlreichen Videos festgehalten – etliche der Filmszenen und Interviews flossen in das gleichnamige Theaterstück mit ein, um so den Stimmen der tunesischen Schauspieler:innen auch hier zu Präsenz zu verhelfen. Sie wurden somit ein entscheidender Teil der Aufführungen in Deutschland.

Zu sehen und mitzuerleben war nun eine Theater-Videoperformance auf höchstem Niveau. Gleich zu Beginn agierten die jungen Schauspieler:innen aus dem Publikum heraus, indem sie durch die Verlesung der Allgemeinen Menschenrechtserklärung mit den Besucher:innen in direkten Kontakt traten und deutlich machten, wie wenig die Menschenrechte eingehalten werden, wenn es um Menschen vom afrikanischen Kontinent geht.

In Anlehnung an Kafka's «Bau» schlüpfte eine Schülerin in die Rolle eines Menschen, dessen ausschließliches Ziel es ist, sich vor dem Eindringen der Fremden zu schützen. In zynisch skurriler Inszenierung wurde die sogenannte Kongokonferenz von 1884 thematisiert, in der die europäischen Staaten auf Einladung von Otto von Bismarck den afrikanischen Kontinent unter Missachtung der dort lebenden Bevölkerung unter sich aufteilten. In der anschließenden Szene überzeugten zwei Schüler als Investmentbanker, die das Publikum davon zu überzeugen versuchten, wie lukrativ es ist, wenn man in Supermarktketten oder große Kaffeefirmen investiert, die heute in Afrika tätig sind. Dabei wurde deutlich, wie wenig sich der Umgang mit dem Kontinent in den letzten hundert Jahren verändert hat. Auf berührende Weise wurden durch die Einblendung der in Tunesien entstandenen Choreographien immer wieder die afrikanischen Schauspieler in den Abend integriert.

Zu den bewegendsten Szenen gehörte die Begegnung auf der Leinwand mit den afrikanischen Freund:innen, die durch den Filmemacher Manuel Linke bereits im März in Tunesien aufgezeichnet wurde. Anhand eines Schattentheaters fanden gemeinsame Bewegungen und angedeutete Berührungen statt, die manchen Besucher:innen die Tränen in die Augen trieben. August Zirner verlieh dem alten Boot seine Stimme, das darüber klagt, wie viele Menschen es enttäuscht hat, da es sie nicht nach Europa bringen konnte. Die Schüler:innen stellen sich der Utopie einer Neuordnung der Welt, in der man die Nationalitäten ad absurdum führt und zum «Erdenbürger» wird.

Was die afrikanischen Teilnehmer:innen sich von einer neu gestalteten Welt erwarten würden, welche Träume sie haben, welche Enttäuschungen sie durch das Verhalten der europäischen Politik immer wieder erleben, konnte man durch die Einblendung von Interviews erfahren. Der Abend endete mit einer Tonaufnahme aus dem Jahr 1948, in der die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verkündete und vielen Besucher:innen ist an diesem Abend klar geworden, dass sie diese Rechte kaum kennen.

Die Schüler:innen entließen ein zutiefst bewegtes Publikum in den warmen Sommerabend und wen immer man hörte, es war klar: der Abend würde noch lange nachwirken.

Für die Jugendlichen steht nach der Begegnung mit den Menschen in Tunesien fest, dass die Aussage, man könne sowieso nichts tun, nicht zu akzeptieren ist. Sie planen, die Parolen der Politik aufzugreifen, den Fluchtursachen im Heimatland entgegenzuwirken, indem sie über Startups nachdenken: Wie können wir zum Beispiel einen jungen Migranten von der Elfenbeinküste dabei unterstützen, seine traditionelle Kleidung in Deutschland zu verkaufen? Wie können wir Lehrerinnen aus dem Kongo eine berufliche Unterstützung bieten, indem sie beispielsweise über zoom Nachhilfe in Französisch anbieten? Wie kann man einem jungen Tänzer, der in Europa an internationalen Tanzprojekten teilnehmen könnte, zu einem Visum verhelfen?

Klar ist bereits, dass einige der Schüler:innen in den nächsten Ferien auf eigene Kosten wieder nach Tunesien fahren werden, um ihre neuen Freund:innen zu treffen, ihnen eine DVD des Theaterprojekts mitzubringen und um über neue Ideen zu sprechen.

Die Einnahmen des Theaterprojekts werden den afrikanischen Schauspieler:innen zugutekommen.

Sibylle Stier, *1959, Dozentin für Klavier an der Hochschule der Uni Augsburg, ausgebildete Musiktherapeutin. War in den FWS Prien und Rosenheim als Musiklehrerin tätig. In den Bereichen Musik/Musiktherapie und Theater ist sie seit vielen Jahren in unterschiedlichen Krisengebieten unterwegs.

sibylle.torro@gmx.de

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