Notfallpädagogik in Japan

Bernd Ruf

Als an Japans schwarzem Tag die Erde erbebte, war auch an der Ookawa-Grundschule in Ishinomaki gerade Unterrichtsende. Etwa 40 Kinder wurden an diesem Tag von ihren Eltern von der Schule abgeholt. Drei Lehrer waren vom Unterricht befreit. Die verbleibenden 70 Schüler versammelten sich mit ihren elf Lehrern entsprechend des Tsunami-Krisenplans auf dem Sammelplatz der Schule. Der beabsichtigte Schutzort wurde für sie zur Todesfalle. Alle anwesenden Kinder und Lehrer wurden von den Tsunamiwellen weggerissen und ertranken in den Fluten. Nur ein Lehrer und drei Kinder, die sich den Weisungen widersetzt hatten und auf einen Berg geflüchtet waren, überlebten die Katastrophe. Die Ookawa-Grundschule von Ishinomaki wurde landesweit zum Sinnbild für Japans schwarzen Tag.

Die Überlebenden können sich ihrer Rettung nicht erfreuen. Sie sind teilnahmslos, apathisch und fühlen sich innerlich leer. Viele empfinden Schuldgefühle. Die überlebenden Lehrer sind depressiv-suizidal, viele Eltern machen sich Vorwürfe, weil sie ihre Kinder an diesem Tag nicht von der Schule abgeholt haben. Andere empfinden Scham, einfach weil sie überlebten.

Tsujoshi (7) besucht die Ookawa-Grundschule in Ishinomaki. Durch den Tsunami verlor er seine drei Cousinen, seine Klassenkameraden und alle seine Nachbarn. Er selbst wurde gerettet, weil ihn seine Mutter von der Schule abholte. Seit der Katastrophe fährt Tsujoshi ständig Fahrrad. »Das Rad gehört meinem Freund. Er braucht es jetzt nicht mehr. Er ist tot«, sind Satos erste Worte bei unserer Begegnung. An den notfallpädagogischen Aktivitäten möchte er zunächst nicht teilnehmen. Schon bald fährt er aber die ein- und auswickelnde Spirale mit dem Fahrrad, widmet sich intensiv Übungen zum Formenzeichnen und beteiligt sich mit zunehmender Freude an Ballspielen.

Da die meisten Kinder nicht in der Lage sind, über ihre Erlebnisse, Gedanken und Gefühle zu sprechen, ist es wichtig, ihnen alternative, nonverbale Ausdruckmöglichkeiten zu bieten. Im Zeichnen bringen sie ihre Erlebnisse aufs Papier, im Singen können sich ihre Gefühle ebenso lösen wie im Aquarellieren. Auch im Theaterspielen, Tanzen oder Modellieren können belastende Erlebnisse nonverbal zum Ausdruck gebracht werden.

Nach traumatischen Erlebnissen ist das Leben aus den Fugen geraten. Meist leiden die betroffenen Kinder und Jugendlichen an ausgeprägten Rhythmusstörungen. Die rhythmische Strukturierung des Tageslaufs, rhythmische Klatsch- und Bewegungsübungen oder rhythmische Ballspiele können zu einer Reorganisation gestörter Bio-Rhythmen beitragen und die leidvolle Symptomatik lindern.

So wurde beispielsweise auch der Schultag der Kinder der Onagawa Grundschule zusammen mit dem örtlichen Lehrerkollegium rhythmisiert und ritualisiert. Dem gemeinsamen Anfangskreis folgen Workshops in Eurythmie, Malen, Formenzeichnen, Erlebnispädagogik und Rollenspiel. Der gemeinsame Abschlusskreis erfolgt schließlich in spiegelbildlichem Aufbau zum Anfangskreis.

Vitalisierende Seelenpflege

Auch Kinder mit Behinderung sind Opfer von Japans schwarzem Tag geworden. In Rifu unterbreitet der heilpädagogische Tageshort » Satzan-zi« (»glückliches Haus«) Förderangebote für Kinder und Jugendliche mit Behinderung aus dem japanischen Krisengebiet.

Kinder mit sogenannter geistiger Behinderung sind nach Großschadensereignissen sehr häufig von Traumatisierung betroffen. Aufgrund ihrer kognitiven Einschränkungen wirken plötzliche Veränderungen der äußeren Lebensverhältnisse in besonderer Weise bedrohlich und beängstigend. Die Traumatisierungsfolgen bei sogenannten geistig behinderten Kindern und nicht behinderten Kinder unterscheiden sich in der Regel nicht wesentlich. Auch sogenannte geistig behinderte Kinder und Jugendliche bilden die traumaspezifische Symptomatik aus.

Tsie (9) leidet an einer Störung innerhalb des Autismus-Spektrums. Zusammen mit ihrem ebenfalls behinderten Bruder Sato (12) konnte sie dem Tsunami entkommen. Seither will das verhältnismäßig großgewachsene Mädchen von ihrer Betreuerin ständig wie ein Kleinkind auf dem Rücken getragen werden. »Seit der Katastrophe sind viele Kinder auf Entwicklungsstufen zurückgefallen, die sie längst überwunden hatten. Sie sind ängstlich und anklammernd. Ihre individuellen Störungsbilder zeigen sich immer ausgeprägter. Manche Kinder zeigen sich hyperaktiv und aggressiv, andere sind apathisch, ziehen sich sozial immer mehr zurück oder sind wie bewegungslos erstarrt«, berichtet die Heilpädagogin Yuka (43).

Ein traumatischer Schock zerrüttet auch die Körperwahrnehmung. Er wirkt sich störend auf alle basalen Sinne aus. Es ist nach einem traumatisch belastenden Erlebnis keinesfalls sicher, seine eigene Nasenspitze mit der Fingerkuppe des Fingers berühren oder sein rechtes Ohr lokalisieren zu können. Die heilpädagogischen Kinder in Rifu wurden deshalb in ihrer körpergeographischen Wahrnehmung und Orientierung spielerisch gefördert.

Jede Art von Bewegung dient der Lösung innerer Blockaden. Deshalb wurde im »glücklichen Haus« in Rifu den Kindern und Jugendlichen auch ein reichhaltiges Bewegungsangebot unterbreitet, das vom Seilhüpfen über Ball- und Bewegungsspiele im Kreis bis zur seelisch gestalteten Bewegung der Eurythmie reichte.

Erziehungskompetenz der Eltern und Lehrer stärken

Wer Kindern und Jugendlichen nach Katastrophen helfen möchte, muss auch ihren meist ebenfalls traumatisierten Eltern beistehen. Eltern benötigen nach traumatisierenden Ereignissen Lebens- und Erziehungsberatung. Sie brauchen zunächst Hilfe bei der Verarbeitung ihrer eigenen psychischen Verletzungen, weil nur psychisch stabile Eltern ihren traumatisierten Kindern wirklich fördernd beistehen können. Nur innerlich ruhige Eltern können ihre tief erschütterten Kinder stabilisieren. Desweiteren bedürfen Eltern nach katastrophalen Ereignissen einer seelischen Therapie. Sie sollten verstehen, was ein Trauma ist, wie Traumata entstehen und welche Verlaufsmöglichkeiten eintreten können. Wichtig ist vor allem einzusehen, dass die in den ersten Wochen auftretenden Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung noch keine Krankheit darstellen, sondern normale Reaktionen auf unnormale Ereignisse sind. Diese können zunächst als nützliche Selbstheilungsversuche des Organismus gelten. Zu den pädagogischen Richtlinien emotionaler Erster Hilfe gehören u. a.: Zuwendung, Rhythmus, Ritualisierung, Bewegung, Kunst, Spiel, Grenzsetzung und Freude. Falls die zunächst normalen Reaktionsweisen auf ein traumatisches Geschehen aber auch nach Wochen und Monaten noch nicht nachlassen und Trauma-Folgestörungen auftreten sollten, benötigen die Eltern kompetente professionelle Ansprechpartner zur weiteren Hilfe.

In Osato und Tagajo im nordjapanischen Katastrophengebiet sowie in Tokio wurden im Rahmen der notfallpädagogischen Krisenintervention Elternberatungskurse durchgeführt.

Immer wieder erzählten Eltern, dass ihre Kinder zunächst keinerlei Anzeichen einer Traumatisierung erkennen ließen. Sie schienen von der Katastrophe wie unberührt zu sein. Erste Hinweise ergaben sich dann erst nach Wochen. Oft wurde auch berichtet, dass sich viele Kinder tröstend um ihre leidenden Eltern bemühten und sie emotional aufzurichten versuchten. Auch in der Forschung ist bekannt, dass Kinder oft ihre eigenen seelischen Verletzungen aus irrationalen Scham- und Schuldgefühlen verbergen. Sie verbergen ihr Leid aber auch, um ihre Eltern nicht noch weiter zu belasten und sie vor weiteren Sorgen zu schützen.

Was für die japanischen Eltern nach dem Tsunami gilt, hat auch Gültigkeit für die Lehrer und Erzieher: auch sie müssen erst wieder stabil werden, um die Kinder und Jugendlichen stabilisieren zu können. Um die Nachhaltigkeit der Notfallpädagogik sicherzustellen, werden in die konkrete Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen nach Möglichkeit immer ihre Lehrer, Erzieher und Betreuer einbezogen. In Tokio kamen annähernd 100 Waldorflehrer, Waldorferzieher anthroposophische Ärzte und Therapeuten zu einem Tagesseminar zur Notfallpädagogik zusammen. Außerdem konnten in Tokio über 70 anthroposophische Lehrer, Erzieher, Ärzte und Therapeuten in einem Intensivkurs auf die Bildung von Notfallteams für zukünftige Einsätze im nordjapanischen Katastrophengebiet vorbereitet werden.

Die Konzeption der Waldorfpädagogik als Notfallpädagogik hat sich nach Interventionen im Libanon und Gaza-Streifen, in China und Kirgisistan sowie auf Haiti auch im japanischen Kulturraum weiter konkretisiert. Die ihr zugrunde liegenden pädagogischen Ansätze menschlicher Entwicklung sind universal. Ihre Stärke liegt in ihrer Anpassungsfähigkeit an verschiedene kulturelle Bedingungen und Bedürfnisse. Sie wächst durch die Begegnung und Zusammenarbeit mit Menschen aus verschiedensten Regionen dieser Welt.

Danksagung

Wir haben bei der Vor- und Nachbereitung, aber auch bei der Durchführung vielfältige und wertvolle Unterstützung erfahren. Besonderen Dank gilt dem Dipl. Chemiker Herrn Dr. Klaus Eiben, dem Leiter des Kerntechnischen Hilfszugs in Eggenstein-Leopoldshafen, Herrn Stefan Prüßmann, dem Strahlenschutzexperten der Berufsfeuerwehr Karlsruhe, Herrn Joachim Pech, den Medizinischen Diensten - Strahlenunfall Ambulanz des Karlsruher Instituts für Technologie, dem Bundesamt für Strahlenschutz und nicht zuletzt unseren japanischen Kooperationspartnern, besonders Kai Imura und Kimiko Ishikawa.

Spendenkonto: Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners e.V. GLS Gemeinschaftsbank Bochum. BLZ 430 609 67. Konto-Nr. 800 800 700. Kennwort: »Notfallpädagogik«