Notfallpädagogischer Einsatz in der Karibik

Thomas Wildgruber

Der Orkan Iota explodierte zu einer Stärke der Kategorie 5! Windböen von 250 Kilometern pro Stunde rissen zuerst die Blechdächer weg, die wie Blätter oder Metallgeschoße durch die Luft wirbelten, dann fielen die aus Holz gezimmerten Häuser in sich zusammen, die großen Bäume krachten zu Boden, selbst die Palmen hielten nicht Stand. Die Wellen stiegen über die Ufer und der Regen strömte in Sturzbächen von den Bergen herab. »Wir konnten uns nur in den Toiletten- und Baderaum retten, hinter die einzigen Mauern aus Zement in unseren Häusern. Sechs Stunden standen wir zu neunt dicht gedrängt in dieser schwarzen Nacht im Wasser und hielten die Kinder auf den Schultern, um sie vor dem Ertrinken zu retten. Wir sahen nichts und hörten nur das Brüllen des Sturms und das Krachen einstürzender Wände und Bäume. Der Tag war noch schlimmer, unser Mangobaum im Garten, die Bananen und Papayas, alles lag am Boden, und kein Baum auf den Hügeln hatte noch Blätter, kahl und braun die nackten Felsen. Wo blieb unsere grüne Insel?«, berichtet Luz Howard, eine ältere Lehrerin, die sich seitdem auf einen Gehstock stützt.

Die nächsten Tage zeigten die Schäden in Zahlen: Praktisch alle 5.600 Bewohner der Insel sind obdachlos, von den knapp 2.000 Häusern sind nur noch 130 bewohnbar, der tropische Trockenwald ist entlaubt, 90 Prozent der Infrastruktur beschädigt, kein Strom, kein Trinkwasser, nichts mehr zu essen, aber »nur« drei Tote.

Es wird Monate dauern, bis die Menschen wieder ein Dach über dem Kopf haben. Die Natur erholt sich hier schnell, nach zwei Wochen sprießen wieder die ersten grünen Blätter. Doch wie lange wird es dauern, bis der Schock überwunden ist? Eine Woche nach dieser Katastrophe erreicht eine Mail der Umweltorganisation »Help2Oceans« die Freunde der Erziehungskunst in Karlsruhe. Zehn Tage später landen drei Experten der Notfallpädagogik aus Deutschland und elf Freiwillige aus Kolumbien auf der Nachbarinsel San Andrés. Der Archipel ist eine geostrategische Bastion Kolumbiens. Er hat ebenso seine koloniale Geschichte.

Vom 15. bis zum 19. Jahrhundert war er zuerst ein Zufluchtsort verfolgter englischer Puritaner, dann ein Zankapfel der englischen und spanischen Eroberer, bewirtschaftet von afrikanischen Sklaven, Dorado der Freibeuter, Schmuggler und Piraten, am Ende 1912 einverleibt vom katholischen Staat Kolumbien, 500 Kilometer entfernt vom kolumbianischen Festland, 180 Kilometer von Nicaragua.

1953 wurde San Andrés zum Freihafen erklärt, damit begann ein Boom, der aus der Kokospalmen-Insel mit 5.000 Bewohnern eine Touristenstadt von 78.000 Einwohnern machte. Hotels schossen aus dem Boden, Drogengelder ließen sich hier gut verbauen. Die übervölkerte Insel steht vor dem Kollaps mit Müllbergen, Meeresverschmutzung, Wasser- und Energieproblemen. Die Nachbarinsel Providencia hingegen konnte sich etwas von ihrem karibischen Flair erhalten – bis zur Iota-Katastrophe.

Die schwarz-afroantillischen »Raizales« sehen sich als die Verlierer dieser Entwicklung und verstehen sich überhaupt nicht als Kolumbianer. Sie haben ihre kreolische Sprache, ihre Reggae-Musik, ihre angloamerikanische Religion, und sie sind die von der Orkankatastrophe am stärksten betroffene Bevölkerungsschicht. Ihnen liegt an der Erhaltung ihrer Kultur und der Erholung der Natur. Etwa die Hälfte der Kinder und Jugendlichen aus Providencia wurden nach San Andrés evakuiert und dort bei Verwandten, evangelischen Kirchen oder in Lagern mit ihren Müttern und Tanten untergebracht.

Zwei Wochen lang konnten unsere Teams der Pedagogía de Emergencia (Notfallpädagogik) an wechselnden Orten mit ihnen für etwa drei Stunden zusammen sein. Nach drei Tagen wechselten wir die Gruppen, manchmal waren es fünf bis zehn, manchmal über 60 Kinder, die das Erlebnis dieser schwarzen Nacht in ihren Seelen trugen. Auch arbeiteten wir seminaristisch mit Lehrerinnen, Psychologinnen und Sozialarbeitern. Jeder Tag begann und endete mit Planungen und Rückblicken in einem Kreisritual.

Mit einer Menge von Aktivitäten aus der Waldorf- und Erlebnispädagogik versuchten wir den Menschen kurze Erlebnisse des Spielens, der körperlichen Stabilisierung, der künstlerischen und manuellen Kreativität zu geben: kleine Momente des Vergessens und der Freude. Gerne hätten wir länger mit den Kindern und auch den Müttern weitergemacht. Doch das Konzept der Notfallpädagogik zielt auf den ersten lösenden Eingriff in das Trauma. Eine tiefere persönliche Beziehung würde die Kinder eher belasten. Die Wirksamkeit des Tuns setzte vor allem im Bereich der Körpersinne an, man könnte auch sagen am unbewussten Willenspol. Stabilisierende Bewegungs-, Gleichgewichts- und Tasterlebnisse können eine Grundlage für eine mentale, seelische Erholung geben, auf dass sich das Trauma nicht noch tiefer eingräbt. Gespräche, so berichteten die beiden Teams, die zu den am härtesten Getroffenen nach Providencia reisen konnten, halfen den Erwachsenen dort: »Da hört mir jemand zu!«, sagten sie mit einem kreolischen »Thank you« und einem Lächeln zum Abschied.