Oberstufenschüler gestalten ihre Schule mit

Thomas Lutze-Rodenbusch

Die Lehrer und Schüler setzen sich jeweils an unterschiedliche Tische – im gleichen Raum – und sammeln. Dann beginnen die Schüler:

• Unterricht, der nicht nur auf Wissensvermittlung abzielt, sondern auf unterschiedlichen Ebenen in die Tiefe geht.

• Schule als Raum zur Selbstentfaltung und Persönlichkeitsstärkung.

• Es gibt Highlights, an die man sich später bestimmt noch erinnert: Jahresarbeiten, Praktika, Aufführungen künstlerischer Projekte.

• Die Schule ist ein »schöner« Aufenthaltsort, weil man sich kennt, weil man die Unterschiedlichkeit der Mitschüler als Bereicherung erlebt, weil die Abwechslung zwischen kognitiven, künstlerischen und handwerklichen Fächern als angenehm empfunden wird.

• Weil offene und keine geschlossenen Fragen gestellt werden.

• Weil die Unterrichtsinhalte thematische Bezüge auf die gesellschaftliche Gegenwart ermöglichen.

Die Lehrerinnen und Lehrer hören mit Herzklopfen und großen Augen zu und trauen ihren Ohren nicht. Sie haben sich ihre Ideale der Waldorfoberstufe aufgeschrieben, die sie nun vortragen:

• Fördern der individuellen Entwicklung der Schüler, indem ihr Selbst- und Weltverständnis geschult werden.

• Zu Erkenntnissen verhelfen, nicht Erkenntnisse vermitteln.

• Ganzheitlich unterrichten, deshalb Leib, Seele und Geist ansprechen, deshalb künstlerische, handwerkliche und kognitive Fächer gleichwertig nebeneinander stellen.

• »Schönheit« in allen Fächern entdecken, auch in Mathematik und Deutsch.

• Zeit bieten, in die Tiefe zu gehen; offen für Prozesse sein.

• Der Lehrer als Entdecker: Nichts eintrichtern, sondern Potenziale in Schülern entdecken und fördern.

Man teilt die gegenseitige Überraschung mit: Lehrerideal und Schülererfahrung sind nah beieinander. Und man fragt sich, warum das nicht bei der jeweils anderen Seite ankommt.

Ein Traum der Kommunikation wird wahr

Ein Traum? – Kein Traum! Diese Veranstaltung hat stattgefunden, und die gegenseitige Verwunderung auch. – Wie kam es dazu?

Schüler-Kritik an der Oberstufe unserer Schulen aus Nordrhein-Westfalen war in den Artikel »Gegen den Strom. Neue Konzepte für die Oberstufe« in der »Erziehungskunst« von Dezember 2014 gemündet. Diesen Unmut hatte der seit Jahren arbeitende Oberstufenkreis der Landesarbeitsgemeinschaft Nordrhein-Westfalen aufgegriffen und die beiden Autoren aus Bochum, Vertreter der Landes-Schülervertretung (SV) Nordrhein-Westfalen und der Bundes-Waldorf-SV nach Dortmund eingeladen. Dort wurde vereinbart, dass wir auf dem zu einer kleinen Tradition gewordenen »Lehreraustausch Oberstufe« Schüler und Lehrer zusammenführen wollen. Warum sollen wir es nicht wagen, Schüler und Lehrer gemeinsam über die Entwicklung der Oberstufe beraten zu lassen, statt getrennt Hoffnungen und Forderungen zu formulieren? Und nun kam es zu dem Treffen, von dem eingangs berichtet wurde.

Im März dieses Jahres versammelten sich etwa 50 Lehrer und 16 Schüler wieder in Dortmund. Nach einer Einführung von Markus Schulze aus dem Sprecherkreis der Landesarbeitsgemeinschaft Nordrhein-Westfalen stellten David Kratzert, Ruben Philipp und Sophie Teske ihre Erwartungen an die Gesprächsrunde in den Raum. David und Ruben sind Schüler der 13. Klasse in Bochum und die Autoren des oben erwähnten Artikels. Sophie, Mitglied der Waldorf-SV, ist Schülerin der 12. Klasse in Mülheim. Die drei hatten Ideen, was zu verbessern wäre, aber gleichzeitig betonten sie, dass sie die Waldorfschule auch bereichert habe. Dieses Stichwort gab den Anlass, dass wir uns in der Gesprächsgruppe zunächst einmal genau darüber, nämlich über das, was uns bereichert, gegenseitig informiert haben. Die uns alle verblüffende Nähe bot eine gute Basis für ein Gespräch auch über Dinge, die aus Schülersicht fehlen.

Was aus Schülersicht fehlt

• Wo man so überraschend in die gleiche Richtung zielt, wird von der Schülerschaft erwartet, dass die Lehrerschaft Waldorfpädagogik auch erklärt und vermittelt, zumindest viel öfter Gespräche dazu anbietet.

• Schüler haben den Eindruck, dass Lehrer häufig einen Widerspruch zwischen Abitur und Waldorfpädagogik sehen. Können Lehrer auch verbindende Elemente zwischen Abitur und Waldorfpädagogik herausstellen?

• Bei aller Freude an der Unterschiedlichkeit leiden leistungsfreudige Schüler besonders in den drei letzten Klassen gelegentlich an eher unmotivierten Mitschülern. Wie setzen wir die ideellen Gedanken in der Realität um?

• Dieses Gespräch, das so viele positive Ideen und Kräfte freigesetzt hat, sollte in den Schulen geführt werden können. Aber dort sind die Schülervertretungen oft nicht sicher genug etabliert, um solche Gespräche organisieren zu können. Wie kann man sie vor Ort stärken?

• Indem zum Beispiel Schüler und Lehrer gemeinsam Epochen oder Unterrichtssequenzen planen?

So sind wir aus der ›traumhaften‹ Welt des Einverständnisses, die ja wirklich war, doch noch in die gestaltbare Welt der Realität eingetaucht.

Was sich die Gruppe vorgenommen hat: Die Bundes-SV und die Landes-SV Nordrhein-Westfalen werden diese Themen auf der Bundesschüler-Tagung in Hamburg weiter bewegen. Dort sollen auch Arbeitsgruppen zu diesem Themenkreis für die Delegiertentagung im Januar 2016 vorbereitet werden. Ich wünsche mir, dass sich viele Schülerinnen und Schüler als aufgenommen in einem Strom erleben können und mit ihren Ideen nicht gegen ihn anschwimmen müssen.

Zum Autor: Thomas Lutze-Rodenbusch ist Oberstufenlehrer für Geschichte, Deutsch und Religion an der Krefelder Waldorfschule und Mitglied im Vorstand des Bundes der Freien Waldorfschulen. Als Vorstandsmitglied ist er verantwortlich für den Kontakt zur Waldorf-SV. Er hat diesen Prozess mit angestoßen und begleitet und wird bei der Umsetzung der Schülerideen helfen.