Plädoyer für eine Befreiung der (Lehrer-)Bildung

Antje Bek

Erwartungshorizonte sind Kriterien zur Beurteilung der Schülerarbeiten; sie ermöglichen es, jeder Arbeit eine bestimmte Punktzahl zuzuordnen. Erwartungshorizonte für die Klausuren der zentralen Prüfungen werden von Menschen formuliert, denen die Schüler gänzlich unbekannt sind. Die Lehrer der Schüler, die weder die Themen der Abitur-Klausuren noch die Erwartungshorizonte selbst formuliert haben, haben die Aufgabe, sich mit den extern verfassten Erwartungshorizonten vertraut zu machen und ihre Schüler darin zu schulen, die von außen an sie herangetragenen Erwartungen zu erfüllen. Diese Haltung widerspricht nicht nur dem Wesen der Waldorfpädagogik, sondern auch dem Wesen des Menschen fundamental. Dabei ist völlig bedeutungslos, ob die Abiturthemen und Erwartungshorizonte bildend, sinnvoll oder gar originell sind. Es soll auch nicht abgestritten werden, dass es an allen Schulen Lehrer gibt, denen die Entwicklung ihrer Schüler am Herzen liegt und die sich dafür einsetzen. Es geht hier um das hinter dieser Prüfungsform stehende Bild vom Menschen, an den von außen eine scheinbar objektive Norm herangetragen wird, die er erfüllen muss, wenn er studieren will – ohne Rücksicht auf das, was in der persönlichen Lehrer-Schüler-Beziehung lebt und ohne Rücksicht darauf, welche individuellen Anlagen der Schüler hat. Der junge Mensch, der darauf eingeschworen wird, die an ihn von außen herangetragenen Erwartungen zu erfüllen, wird im Zusammenhang mit den Prüfungen gar nicht ermuntert, sein inneres, individuelles Wesen zu suchen und zu entwickeln, denn danach wird nicht gefragt. Im schlimmsten Fall wird er daran sogar regelrecht gehindert. Durch diese Art der »Schulung« müssen alle jungen Menschen gehen, seien sie Waldorfschüler oder Schüler einer staatlichen Schule. 

Wenn die innere Antriebskraft verkümmert

»Burn out« bereits bei Schulkindern, steigende Selbstmordrate nach den Ferien, eine drastische Zunahme von Schulverweigerern, Depressionen – liegt es an den Kindern, dass sie es einfach nicht »packen« in diesem System? Rudolf Steiner sah es anders. Er beschrieb die Folgen eines auf das Äußerliche, Materialistische gerichteten Unterrichtes, der die innere Anschauung des Menschen vernachlässigt, wie folgt: »Wenn der Mensch nur durch Anschauungsunterricht durchgeht, dann wird er seelisch völlig ausgedörrt, dann ersterben nach und nach die inneren Triebkräfte der Seele; … Und dasjenige, was aus dem Innern der Seele sprießen sollte, das wird allmählich in der Seele ertötet« (Die Erziehungsfrage als soziale Frage). Das Leiden der Kinder am Ersterben der »inneren Triebkräfte der Seele«, aber auch ihrer Eltern und mancher Lehrer am heutigen Schulsystem hat zu einer inzwischen beachtenswerten Bewegung geführt, die sich für eine Transformation des Schul- und Bildungssystems einsetzt – stellvertretend seien die Symposien »Bildung und Bewusstsein«, die Initiativen FREI-DAY4Future oder »Pioneers of Education« mit über 5.000 Teilnehmern genannt. Die Nachfrage von Eltern nach alternativen Schulen nimmt zu. Es zeigt sich immer deutlicher, dass das bestehende System, von dem auch Waldorfschulen in gewissem Maße ein Teil sind, dem sich entwickelnden Wesen des Menschen nicht gerecht wird.

Die Seelenverfassung der Lehrer ist entscheidend

Als Hauptverantwortlichen für die seelischen Nöte sah Steiner die Lehrerbildung, wie sie noch bis heute an Hochschulen stattfindet; nicht auf abfragbares Wissen, sondern auf die »Seelenverfassung« der zukünftigen Lehrer sei das Hauptaugenmerk zu legen. Im Zentrum solle demnach die Sensibilisierung des Lehrers für das geistige Wesen des Menschen stehen. Dazu gehöre auch, »in dem heranwachsenden Kind das Zeugnis dafür zu sehen«, dass es »heruntergestiegen ist aus der übersinnlichen Welt« durch seine Empfängnis und Geburt. Und sich selbst dürfe der Lehrer als Helfer bei der Entfaltung dieses »übersinnlichen« Wesens verstehen. Er könne ihm dabei helfen, sich das anzueignen, das zu lernen, was es eben nur dadurch, dass es hier auf der Erde in einem physischen Körper lebt, lernen kann und möchte. Diese Art der Lehrerbildung widerspricht auch heute noch jeglicher anerkannter Wissenschaftsauffassung.

Eine freie Institution

Das Institut für Waldorf-Pädagogik in Witten-Annen ist als freie Ausbildungsstätte tätig. Auch wenn formal keine Hochschule, also nicht akkreditiert, bieten sie dort de facto die Qualifikation einer Hochschule, da die ausgebildeten Lehrer eine Unterrichtsgenehmigung für den Unterricht an einer Waldorfschule bekommen. Es wird dieser Abschluss bei voller Freiheit bezüglich der Einstellung von Kollegen und der Gestaltung des Studiums geboten. Die Studenten, die ans Institut kommen, haben oft bereits ein paar Semester an einer staatlich anerkannten Hochschule absolviert. Das dort vermittelte Wissen erreichte ihr inneres Wesen nicht, sie wollen mehr als eine Matrikelnummer sein. Viele der jungen Menschen berichten von großem Druck und Stress. Sie sind schnell zu verunsichern, innerlich orientierungslos und wenig belastbar. Sie passen einfach nicht ins System oder wollen dort auch gar nicht hineinpassen.

Die fünfjährige Ausbildung bietet einen Entwicklungs-Zeit- Raum, in dem die jungen Menschen sich frei von äußer­lichen bürokratischen Vorgaben auf den Weg zum Beruf des Waldorflehrers machen können. Sie dürfen sich von Anfang an mit dem geistigen Wesen des Menschen vertraut machen und müssen nicht erst durch einen Ausbildungsweg gehen, der den wahren Kern des Menschen systemimmanent ignorieren muss. Das duale Studium bietet ihnen zudem einen großen Praxisanteil mit Ausbildung in ausgewählten Waldorfschulen. Wir haben die Hoffnung, dass diese jungen Menschen in Zukunft vielleicht auch den von Steiner so bezeichneten »verfluchten Stundenplan«, »dieses Mordmittel für eine wirkliche Entwicklung der menschlichen Kräfte« abschaffen werden, weil sie nach anderen Formen suchen, die Entwicklung des Denkens, Fühlens und Wollens der Kinder fördern und die Schule zu einem wirklichen Lebensort umgestalten wollen.

Am Institut für Waldorf-Pädagogik in Witten-Annen wird versucht, dafür Anregungen zu geben, indem im ersten Studienjahr nicht mehr nach »Fächern« und »Stundenplan« unterrichtet, sondern sich wissenschaftlich, künstlerisch und praktisch der zentralen Frage: Was ist der Mensch? angenähert wird.

Zur Autorin: Antje Bek ist Klassen- und Sportlehrerin an der Rudolf-Steiner-Schule Dortmund, seit 2013 Dozentin in der dualen Klassenlehrerausbildung am Institut für Waldorf-Pädagogik Witten-Annen.

Literatur:

Rudolf Steiner: Die Erziehungsfrage als soziale Frage, GA 296, Vortrag vom 15. August 1919, Dornach 1991