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Polare Gegensätze ohne Anziehung. Waldorfpädagogik und österreichische Mentalität

Bettina Huber
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Es gibt Schwangere, die sich damit beschäftigen, in welchen Farben sie das Kinderzimmer streichen. Und es gibt Schwangere, die sich bereits eine liebevolle Schule für ihr Kind überlegen. Zu diesen gehörte ich. Mein Sohn ging letztes Schuljahr in die erste Klasse der Waldorfschule in Linz/Oberösterreich, und es gab Tage, da wollte ich mit ihm gehen. Ich wollte auf den wiesengrünen Sitzpolstern Platz nehmen und in der Astrid-Lindgren-Atmosphäre des Klassenzimmers noch einmal neu Alphabet und Zahlen, Formen und Farben lernen. Leider wurde ich an der Tür unweigerlich verabschiedet. Doch sein Augenleuchten tröstete mich und bestätigte meinen Entschluss, unser Kind der Waldorf­pädagogik anzuvertrauen.

Dieses Kinderglück haben wohl alle vor Augen, die sich zur Waldorfgemeinschaft zählen, wenn sie Jahr für Jahr mit der prekären Finanzlage und der mangelhaften sozialen Anerkennung kämpfen. «Man tut es ja für die Kinder», erzählt mir auch die Waldorfmutter und langjährige Waldorflehrerin Eleonore Pfeifer, die die Schule in Linz schon seit 1978 kennt. Inzwischen ist sie pensioniert, doch sie begleitet noch immer jene Schüler:innen, die sich in einem 13. Schuljahr auf die Externisten- bzw. inzwischen auf die Zentralmatura vorbereiten. Viele Schwierigkeiten waren für diese Lösung zu überwinden, die für Waldorfschüler:innen den Zugang zu tertiären Bildungseinrichtungen ermöglicht, aber auch das Wesen der Waldorfschule würdigt.

Was aber ist das Wesen der Waldorfschulen?

Was man in Österreich gemeinhin darunter versteht, demonstriert sehr anschaulich eine Nummer des österreichischen Kabarettisten Klaus Eckel. Er versucht, einen Hund nach der Waldorfmethode zu erziehen: Dabei formuliert er seine Kommandos als süßlich-einschmeichelnde Bitten, die der Hund aber alle ignoriert. Der Witz baut auf der Annahme, Lernen sei anstrengend, langweilig und jedenfalls unfreiwillig, weshalb der Hund nur tut, was er will. Lernen ohne Leistungsdruck – so die Botschaft – gehe halt nicht.

Ohne Leistungsdruck kein Lernen, ohne Lernen keine Zukunft. Zwischen Ausbildung und Kindheit wird ein unüberbrückbarer Gegensatz konstruiert. Abstriche bei der Ausbildung zu riskieren, so kristallisiert sich in den meisten Gesprächen heraus, die ich zum Thema Schule führe, geht für die meisten Eltern gar nicht. Dafür nimmt man den Leistungsdruck in Kauf.

Die Skepsis gegenüber einem Schulsystem ohne Leistungsdruck oder Noten ist tief verankert. Das zeigt sich daran, dass in Volksschulen die Eltern abstimmen, ob ihre Schulanfänger:innen Noten bekommen. Das spürt man in den raren öffentlichen Debatten, bei denen es um die gerechte Aufteilung staatlicher Subventionen geht, aber nicht um alternative pädagogische Konzepte. Man merkt es auch auf Ebene der Waldorflehrkräfteausbildung. Von Schwierigkeiten mit bundeslandspezifischen Schulparagraphen und juristischen Spitzfindigkeiten berichtet mir Carlo Willmann. Der aus Deutschland stammende Theologe und Waldorfpädagoge ist Institutsvorstand des Zentrums für Kultur und Pädagogik in Wien, einem An-Institut der Alanus Hochschule, das in Kooperation mit der Universität für Weiterbildung Krems (Donau-Universität) Waldorflehrkräfte ausbildet. Seine Wahlheimat Österreich sieht er «in Bildungsfragen noch in einem postabsolutistischen Zustand. Wir sind darin weniger Bürger, sondern mehr Untertanen, denen das Mitspracherecht vorenthalten ist.» So habe das Bildungsministerium das bereits mit der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule vereinbarte und ausgearbeitete Konzept eines Studienschwerpunktes Waldorfpädagogik  dialoglos abgelehnt, da Hochschulen primär für das Regelschulwesen auszubilden hätten. Auch wenn Privatschulen dagegen rechtlich relativ frei agieren können, nütze dies aber wenig, weil es aufgrund fehlender Ressourcen bzw. staatlicher Zuwendungen nur wenig Handlungsspielraum gebe.

Denn geht es um die Subventionierung der Waldorfschulen, so herrscht im Allgemeinen der Tenor, die staatlichen Schulen sollten im Fokus der Förderungen stehen, dort gebe es genug Bedarf, die Waldorfschulen («Schulen der Reichen») sollten sich selber finanzieren. Doch werden auch in Österreich Privatschulen subventioniert. Dabei handelt es sich in der Regel um konfessionelle Privatschulen, deren Lehrpläne denen der staatlichen Schulen gleichen. Im Vergleich dazu werden nicht-konfessionelle Privatschulen, sogenannte Freie Schulen, nach Methoden von Rudolf Steiner oder Maria Montessori, deren Lehrpläne nicht «gleich», sondern nur «vergleichbar» sind, «nach Ermessen» gefördert (derzeit mit 750 Euro pro Schulkind, etwa ein Zehntel dessen, was Regelschulen erhalten). So steht es im Österreichischen Privatschulgesetz aus dem Jahr 1962.

Die Vereinbarkeit des Gesetzes mit der Verfassung bestätigte Jahrzehnte später ein Urteil des Verfassungsgerichtshofes: Im Detail, so der Gerichtshof im Jahr 2019, hänge die Subventionierung einer Privatschule von bestimmten Voraussetzungen ab, die nichts mit der Konfession zu tun hätten: Schulen mit nur «vergleichbaren» Lehrplänen (wie Waldorf und Montessori) müssten ein vergleichbares Verhältnis von Schulkindern und Lehrkräften aufweisen, wie alle anderen Schulen am Standort. Außerdem betonte das Höchstgericht die Bedeutung und lange Tradition des katholischen Schulwesens ins Österreich, und verwies auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes, in dem die Subventionierung katholischer Privatschulen zur Förderung des demokratischen Pluralismus gerechtfertigt wurde.

In Österreich sind Bildungssystem, Katholizismus und Bürokratie eng verzahnt, enger als anderswo. Dazu ein Blick in die Geschichte: Zu Beginn des 18. Jahrhunderts erließ Karl VI. die Pragmatische Sanktion, um seiner Tochter Maria Theresia den Thron zu sichern. Es wollte aber auch das gesamte Herrschaftsgebiet erhalten, denn nur Landbesitz war Macht. Deswegen sollte die Zusammengehörigkeit der habsburgischen Ländereien – erstmals in der Geschichte – nicht nur durch die Person an der Spitze garantiert werden, sondern zusätzlich durch eine für alle Gebiete einheitliche Verwaltung. Politisch gesehen ist die Pragmatische Sanktion also eine Art Staatsgründung, nur dass seinerzeit mit «Staat» kein Allgemeinwohl gemeint war, sondern mit dem Hof gleichgesetzt wurde. Die «Interessen des Staates» waren die der absolut herrschenden Regentin und aller ihrer Nachfolger, kurz gesagt: die militärische Absicherung und Erweiterung des Reichsbesitzes.

Der kriegsunwillige Adel und der eigenmächtige Klerus wurden durch den Entzug von Verwaltungsaufgaben entmachtet, Gelder flossen direkt in die Staatskassen. Die Verwaltungsbeamten waren direkt dem Hof unterstellt, das heißt – im Gegensatz zu Adel oder Klerus – sozial und finanziell vollkommen von der Krone abhängig, in fernste Provinzen versetzbar und somit disziplinierbar. Da es aber zu wenig Beamte gab, brauchte es Schulen, die sie zweckgemäß ausbildeten, und – Schüler:innen! Deshalb gründete Maria Theresia staatliche Schulen und führte die allgemeine Schulpflicht ein. Da es den neuen staatlichen Schulen aber an Personal, Räumen und Geld mangelte, war sie bald wieder auf kirchliche Institutionen angewiesen. Auch unter ihren Nachfolger:innen blieb der Einfluss der Kirche groß, und sogar die umfassende Bildungsreform von Franz Joseph wurde im Wesentlichen von den – allerdings liberaleren – böhmischen Reformkatholiken gestaltet.

Die Absicht hinter der allgemeinen Schulpflicht war also kein humanitäres Bildungsideal im Sinne der Persönlichkeitsentfaltung oder des sozialen Aufstiegs durch höhere Ausbildung. Durch die Jahrhunderte der autokratischen Habsburgerherrschaft gestaltete man – nach katholischem Vorbild – die Lehrpläne für die staatlichen Schulen mit dem Ziel der möglichst effizienten Nutzung eines jeden Individuums durch den «Staat»: Die Schüler:innen sollten treue Staatsbürger:innen und funktionierende Staatsdiener:innen werden. Die staatliche Zensur überwachte Lehrpläne, Schulbücher und Mitschriften. Ein Abweichen von den strikten Vorgaben war den Lehrkräften unter Androhung des Berufsverbots untersagt.

Noch unter Franz Joseph sollten die Schüler:innen im Geschichtsunterricht dazu angeleitet werden, in den herrschenden Machtverhältnissen eine «göttliche Vorsehung» zu erkennen. Seine als liberal geltende Bildungsreform – die in ihren Grundzügen bis heute gilt – brachte zwar dem Bürgertum einen sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg, aber kein politisches Bewusstsein. Die Zensur bestimmte über Lehrpläne und das öffentliche Leben. So entstand – im Unterschied zu anderen europäischen Staaten – keine selbstbewusste, kritische Schicht, die zum Beispiel Zeitungen gegründet, die herrschenden Verhältnisse diskutiert, in Frage gestellt oder an der apostolischen Majestät von Franz Joseph gezweifelt hätte. Zu sehr fürchtete man die Obrigkeit, von der man mit Verboten, Willkür und Schikane kleingehalten wurde.

Zwar verspottete man die k.u.k.-Monarchie als «Kakanien», aber fand sie alternativlos. So prägte sie jahrhundertelang das Wesen der Untertanen.

Das Obrigkeitsdenken, die «Untertanenmentalität», findet man in Österreich bis heute in allen Lebensbereichen, aber man macht sie sich kaum bewusst. Die Habsburgerzeit gilt – im Vergleich zur Nazi-Zeit – als unbelastet, Maria Theresia und Franz Joseph gehören zu den wichtigsten Identitätsstiftenden der Nation. Verlässlich sorgen zur Weihnachtszeit pompöse Fernsehproduktionen für Quotenerfolge, und Auktionen von höfischen Gebrauchsgegenständen, wie kürzlich ein Teeservice, machen Schlagzeilen im ORF. Eine kritische Auseinandersetzung umgeht man, indem man unbequeme historische Tatsachen ausspart oder relativiert. So geschehen, als eine österreichische Tageszeitung unlängst das 250-jährige Jubiläum des von Maria Theresia gegründeten österreichischen Schulbuchverlags feierte, aber mit keinem Wort die historischen Hintergründe erläuterte. Ein namhafter Historiker merkte lediglich an, Schulbücher seien schon damals «ein Politikum» gewesen.

Dass von der Gesellschaft bzw. der Bildungspolitik Impulse für einen echten Pluralismus im Bildungs­system kommen, darf man be­zweifeln. Dass Ideen aus der Waldorfpädagogik Einzug ins Regelschulsystem finden oder bereits gefunden haben könnten, finden Bildungsinsider lächerlich. Reformpädagogische Fortschritte schreiben sie Schulversuchen und wissenschaftlichen Erkenntnissen zu, dem allgemeinen, durch Wohlstand bedingten Wertewandel, technischem und digitalem Fortschritt und zunehmender Gleichstellung der Frau in der Gesellschaft, sowie der ab­nehmenden Bedeutung von Religiosität.

Müssen sich die Waldorfschulen gegenüber dem Regelschulsystem öffnen?

Carlo Willmann ist hier selbstkritisch. «In meinen Augen wurde vielleicht schon die eine oder andere Chance vertan, weil man sich zu sehr ans ‹Hergebrachte, Gewohnte, Tradierte, durchaus auch Bewährte› gehalten hat», sagt er und gibt auch ein Beispiel: «Eine Veränderung des Lehrplanes, um möglicherweise Matura anbieten zu können? Nein, lieber nicht!» Überhaupt sieht er auch bei den Freien Schulen noch Entwicklungsspielraum: «Ich erlebe, dass die Freien Schulen kaum Zusammenhalt haben, keine starke Lobby, auch nicht unbedingt die Schulen innerhalb des Waldorfbundes. Jeder wurschtelt so, wie er kann und will sich nicht viel dreinreden lassen. So kommt man natürlich nicht wirklich weiter.» Es verwundert nicht, dass Eltern kaum Bildungsziele oder das Schulsystem an sich hinterfragen, dass es wenig Wissen, aber viele Vorurteile über alternative pädagogische Systeme gibt, die man gern als Schulen der Reichen verunglimpft – wo Kinder
aber einfach nur Kinder sind!

Es gibt Eltern, die leisten sich diesen Luxus.

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