Resilienz am Rande der Großstadt

Von Heidi Käfer, April 2023

Wie die Waldorfschule Escola de Resilência in São Paulo eine Oase für junge Menschen aus der Favela schafft und wie sie sich mit Steiner von ihm emanzipiert, beschreibt unsere Redakteurin, die sich für einige Monate in Brasilien gehalten hat.

Während sich der Zug langsam aus dem Stadtkern São Paulos entfernt, ziehen graue Plattenbauten mit bunt-blinkenden Weihnachtslichtern und volle Wäscheleinen vor Rohbaubaracken aus Backstein an mir vorbei. Ich habe nur ein vages Bild von dem Ort, an dem ich die nächsten Stunden sein werde. Klotzige Schulgebäude, womöglich staubig trockene Erde, Beton? Unwillkommene Stereotype, die ins Bewusstsein kommen. Hoffentlich werde ich die Gelegenheit haben, mit Menschen über ihre Geschichte zu sprechen. Hoffentlich wird niemand das Gefühl haben, sich verstellen zu müssen, wenn ich, die Deutsche, die dort arbeitet, wo so viel finanzielle Unterstützung herkommt, zu Besuch ist. Am Straßenrand Obstläden und Autowerkstätten, Friseure und Metzger hinter offenen Garagentoren. Dicht neben mir strampelt ein gebrechlicher Mann unter brütender Sonne mit seinem rostigen Rad den Hügel hinauf, den ich im angenehm temperierten Uber-Taxi hinter mir lasse. Ein paar Hügel später weichen Grau und Terrakottarot, Stein und Kunststoff, während wir an einem Trinkwasserreservoir vorbeiziehen, plötzlich unterschiedlichen Grüntönen – riesigen Copai- und Flammenbäumen.

Es ist Regenzeit und Spannung liegt in der Luft: Die klebrige Hitze und dramatische Wolken lassen kräftigen Regen erwarten. Wir nähern uns Horizonte Azul, einem Bezirk mit über 30 000 Einwohner:innen  am Rande São Paulos. Hier liegt einer der drei Standorte des Vereins Associação Comunitária Monte Azul, der 1978 von der Waldorfpädagogin Ute Kraemer in der gleichnamigen Favela ins Leben gerufen wurde. Die Waldorfschule in Monte Azul war die erste für Favela-Kinder in Brasilien. Diese verlassen die Schule häufig nach der vierten Klasse als funktionale Analphabet:innen. Kriminalität und Unsicherheit gehören zum Alltag. Neben Schulen, Kindergärten und Krippen, zählen auch zwei anthroposophische Geburtshäuser zu Monte Azul, die einzigen im ganzen Land. (2015 kamen 56 Prozent der Neugeborenen in Brasilien durch Kaiserschnitt zur Welt – so viele wie in keinem anderen Land.)

Am Tor der Schule angekommen, treffe ich Mario, einen kleinen Mann mit freundlichem Gesicht. Mario ist Waldorfpädagoge und Vorstandsmitglied des Vereins. Eltern und Mitarbeiter:innen gehen an uns vorbei, es riecht nach herzhaftem Essen. Die kleine Steigung hinter dem Eingangstor versperrt mir noch die Sicht. Noch ahne ich nicht, in welche Oase ich gleich eintauchen werde. «Zwei Stunden werden wir bestimmt brauchen, bis du alles gesehen hast. Das Schulgelände ist riesig und auf mehrere Grundstücke verteilt!» Während wir die Steigung hinaufgehen, habe ich den Eindruck, in einem kleinen Dorf zu sein. Das Schulgelände ist ein ehemaliger Bauernhof. Kleine bunte Steinhütten sind nebeneinander aufgereiht, in denen sich Büroräume und Informationsstellen befinden. Zwischen den ehemaligen Ställen schlängelt sich eine singende Kindergärtnerin mit einer Herde von Kleinkindern hindurch. Alle halten sich hintereinander an einem Seil fest und schreiten trällernd im Baumschatten an uns vorbei. «Bom dia!», rufen uns die Zwerg:innen zu. Und schon springen zwei Mädchen von der Schaukel und rennen mit offenen Armen auf uns zu. Eine der beiden umarmt mich und fragt: «Você é da Alemanha?» - «Bist du aus Deutschland?» Der Austausch mit Deutschen ist hier wohl üblich. «Sim!», erwidere ich schmunzelnd. Häufig besuchen Kinder aus Mittelklassefamilien eine Privatschule. Das gleiche gilt für den Großteil der Schüler:innen der über 80 Waldorfschulen in Brasilien. Die Mehrheit der Schüler:innen an Privat -und Waldorfschulen ist weiß gelesen und bewegt sich zumindest im Schulumfeld in einer Blase. Die 180 Kinder, die an der Escola de Resilência unterrichtet werden, sind ganz unterschiedlicher ethnischer Herkunft. Viele der Kindergartenkinder und Schüler:innen haben afrikanische Vorfahren und werden schwarz gelesen.

Zwar ist Brasilien aufgrund seiner indigenen und kolonialen Geschichte ein ethnisch äußerst diverses Land, dennoch und gerade deshalb ist es auch ein massiv rassistisches, in dem Menschen wegen ihrer Hautfarbe häufig Gewalt und Ausschluss von gesellschaftlicher Teilhabe erfahren. Dass in Favelas und ärmeren Gemeinden wie Horizonte Azul der Anteil der schwarzen Bevölkerung höher ist als in den wohlhabenderen Vierteln São Paulos, ist Folge dieser Geschichte.

Wir biegen ab und laufen auf ein hübsches Häuschen mit Veranda zu. Direkt dahinter liegt ein Waldgarten mit viel Platz im Grünen. Neben der Eingangstür steht «primer ano», geschrieben – «erstes Jahr». Gerade findet dort Unterricht statt, Mario nimmt mich mit in den Klassenraum. Direkt werde ich auf das schöne Mandala an der Tafel aufmerksam, die Wände sind in warmes Altrosa getaucht, der massive Boden aus Tropenholz knarzt. Der Klassenraum füllt tatsächlich die ganze Hütte aus, eine Kochnische mit einer vollen Obstschale zur Selbstbedienung inklusive. Schon kurios, an jedem Stühlchen hängt eine augenscheinlich selbst-genähte Ledertasche, Faber-Castell-Buntstifte spitzen aus den farbenfrohen Rollmäppchen. Mario bemerkt mein Staunen über die vertrauten Waldorf-Accessoires und kommentiert, dass der Export der Waldorfpädagogik nach Brasilien auch etwas Neo-Koloniales hat. Ich muss wieder an die blinkenden Lichter, Schneemänner und Zuckerstangen auf dem Weg hierher denken, deren Anblick bei 30 Grad Celsius mich stark irritiert hat. Werden im Unterricht auch deutsche Sagen und Legenden behandelt? Was ist mit lokal tradiertem Wissen? Nun gelte es sich mit den Grundbausteinen der ganzheitlichen Waldorfphilosophie, die den Menschen hinter seinem kulturellen Gewand sieht, weiterzubewegen sowie gleichzeitig das eigene kulturelle Wissen zu würdigen, fügt Mario hinzu.

Die Stimmung ist trubelig, Buchstaben üben ist angesagt und es scheint, als wären Spiel und Interaktion gerade wichtiger als das Alphabet stillsitzend nachzuzeichnen.

Gleich ist Frühstückspause, der Fokus weicht allmählich dem Magengrummeln. Nachdem wir uns von der Klasse verabschiedet haben, um noch weitere Teile der Schule kennenzulernen, bemerke ich, wie Spiel und Freiheit im geschützten Raum den Geist des gesamten Ortes bestimmen. Die Kinder und Jugendlichen sind zum Großteil draußen, sie bewegen sich, es gibt einen Tag in der Woche, an dem der komplette Unterricht im Schulgarten stattfindet, selbst angebautes Essen gemeinsam zubereitet und gegessen wird. Was ich hier sehe, fordert mein persönliches Konzept von Schule deutlich heraus. Und es beflügelt mich. Ich meine, zu verstehen, was lebenslanges Lernen in so einem Umfeld heißen kann. Vor allem, wenn die Realität außerhalb sich so extrem von der Schule abgrenzt.

Als Beispiel erwähnt Mario, was die Kinder an der Schule über Ernährung lernen. Es werde nur vegetarisch gegessen, die Kinderkrippe ausgenommen. Sie wird von der Kommune gestellt und unterliegt daher ihren Vorschriften, die vorsehen, dass Kleinkinder alles essen. Ein ökologisches Bewusstsein sei dort weniger präsent. «Brasilianer:innen essen ständig und viel zu viel Fleisch. Mit dem Denken, das hier bei uns erlernt wird, wird etwas verändert», kommentiert er.

Um zum ökologischen Garten zu gelangen, überqueren wir die Straße. Aus dem Fitnessstudio nebenan dröhnt animierender Bass, Lastwagen fahren an uns vorbei. Einige Schritte weiter schließt Mario ein Tor auf. Ein Reichtum an Sträuchern und hohen Bäumen, satt duftendes Grün und feucht-warme Luft überwältigen mich. Auf einem schmalen Pfad streifen wir durch den Waldgarten zwischen Kokosnusspalmen, Mais und Mandiokasträuchern, Baumwoll- und Papayabäumen. Grillen zirpen, Vögel und Schmetterlinge schwirren, Hühner und Gänse ruhen sich im Schatten aus.

Seit den 1950er Jahren wuchs São Paulo drastisch zu einer sich immer weiter ausdehnenden Metropole heran, natürliche Grünflächen wichen immer mehr Siedlungen. In den 1980er Jahren kaufte der Verein Monte Azul das Schulgelände und heute befindet sich das Gelände der Escola de Rêsilencia inmitten einer dicht besiedelten Betonlandschaft. Sie sorgt dadurch für den Erhalt eines Fleckchens Natur, der sonst schon längst bebaut wäre.

In der Ferne ragt ein breiter Unterstand hinter den Bananenstauden heraus. Rauch steigt auf, es riecht nach brennendem Holz und starkem Kaffee. Ein junger Mann schnitzt im Hintergrund eine Holzskulptur, neben ihm stehen mehrere expressive Kunstwerke – Portraits von Bauernfrauen, Skulpturen mit indigener Kunst. Für den Bau des Unterstandes wurde eine Gruppe von Guaraní nach Horizonte Azul eingeladen. Guaraní stellen mit ungefähr 51.000 die größte indigene Gruppe Brasiliens. Viele von ihnen leben heutzutage eingepfercht in Reservaten und bedroht von gewalttätigen Viehzüchtern. Die traditionellen Behausungen der Guaraní sind aus Bambus. Die Gruppe teilte ihr handwerkliches Wissen, das sie über Jahrhunderte an die nächste Generation übertragen hat, mit Menschen in Horizonte Azul. Das wasserdichte Dach besteht aus gespaltenen Bambusrohren, die sich überlappen und quer durch ein Bambusgerüst fädeln. Schule ist hier nicht vom Leben in der Gemeinde getrennt, erklärt mir Mario. Vielleicht ist das genau, was Schule sein soll. Er nennt diesen Ort eine «aldea contemporânea», eine «zeitgenössische indigene Siedlung»: Ökologisches Bewusstsein soll nicht nur ein Privileg der gesellschaftlich Bessergestellten sein, genauso wenig wie Schutz vor Gewalt, ein liebevolles Umfeld, ein Recht auf frische Luft und Nähe zur Natur. Das sind Werte, für die die indigene Bevölkerung Brasiliens stets und angesichts der Bedrohung ihrer und unser aller natürlichen Lebensräume, gekämpft hat. Mit ihren Leitlinien und Praktiken besinnt sich die Schule immer wieder auf diese Werte zurück, die den Menschen nicht abgespalten von der Natur sehen.

Anfangs habe ich mich gefragt, warum die Schule in Horizonte Azul gerade den Namen Schule der Resilienz trägt und nicht einen anderen, warum es gerade die Resilienz ist, die hier verinnerlicht und nach außen getragen werden soll. Da fiel mir die Arbeit einer Anthropologin namens Nancy Scheper-Hughes ein, die mehrere Ethnographien über eine Favela im Nordosten Brasiliens geschrieben hat. Das zentrale Thema ihrer Untersuchung waren Resilienzstrategien von Favela-Bewohner:innen, deren Leben von Gewalt, Tod und Armut geprägt war. Scheper-Hughes definierte psychische Widerstandskraft als essenziell für das Überleben in der Favela. Ich frage mich, welche Art von Widerstandskraft an der Escola de Rêsilencia gelernt wird und habe den Eindruck, Widerstand meint hier vor allem, handlungsfähig und selbstwirksam zu werden. Und das, durch das Erleben selbstverständlicher Diversität sowie einer gesunden Verbindung mit allem, was wir bewohnen - Geist, Körper und Erde.

Heidi Käfer, * 1990, Ethnologin (MA), Redakteurin der Erziehungskunst. Langjährige Tätigkeit in den Bereichen interkulturelle Pädagogik sowie der Geflüchteten- und Menschenrechtsarbeit.

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