Resonanz-Figuren

Dank der Simultanübersetzung werden die Oberstufen weltweit, von San Francisco bis Peking, teilnehmen. Einmalig können sich auch Ehemalige und Eltern den Vorträgen online zuschalten (Registrierung: www.conditio-humana.de), werden doch zugleich waldorfspezifische Bildungsprozesse nach 100 Jahren Oberstufenunterricht befragt. Mit dabei sind die US-amerikanische Schriftstellerin Siri Hustvedt, der Heidelberger Philosoph Thomas Fuchs und der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa. Wir fragen Wilfried Sommer, Mitinitiator des Jugendsymposions und Eröffnungsredner, nach den Motiven des kommenden Symposions.

Erziehungskunst | Herr Sommer, Ihr Vortragsthema lautet: »Resonanzfiguren als Erkenntnisfiguren«. Könn-ten Sie das bitte mal übersetzen?

Wilfried Sommer | In gelungenem Unterricht brechen die Schüler zusammen mit Columbus in eine neue Welt auf oder zeichnen mit ihrem Blick jene Bahn an den Himmel, die eine Wasserrakete zieht. Sie überlassen den Strom ihres Bewusstseins den Erlebnissen von Columbus, oder fühlen am eigenen Leib die Power, mit welcher die Rakete startet. Das sind Resonanzfiguren. Können sie sich aus ihrer leiblichen Einfühlung herleiten, wie die Ausdehnung der Luft durch das Widerlager des Wassers die Rakete vehement nach oben treibt, so wird aus der Resonanzfigur eine Erkenntnisfigur.

EK | Steht dieses und die Vortragsthemen von Fuchs, Rosa und Hustvedt in besonderer Beziehung zur Waldorfpädagogik?

WS | Die Jugendsymposien haben sich von Anfang an nicht als Ort verstanden, an dem Waldorfpädagogik fortwährend besprochen wird. Vielmehr haben wir uns stets erhofft, dass sich Waldorfpädagogik in der Dynamik des Zeitgeschehens selbst weiterentwickelt, wenn sich engagierte Schüler mit Positionen auseinandersetzen, die prominente Menschen der Zivilgesellschaft und des kulturellen Lebens in Gesprächsprozesse einbringen. Es geht im Jugendsymposion niemals um ein wie auch immer geartetes »Eigentliches der Waldorfpädagogik«, sondern immer um Offenheit und Dialoge, in denen sich Schüler und Studenten neu verorten können.

EK | Warum ist die Frage nach der »Conditio humana« heute besonders virulent?

WS | Diese Frage ist schon Jahrtausende virulent, also auch heute. Die Frage, wie es ist und was es heißt, ein Mensch zu sein, beinhaltet, was der Mensch nach Maßgabe seiner Weltverbundenheit werden kann. Hier setzt das Symposion an. Es greift damit zugleich eine Bildungsdiskussion auf, zu der wir durch die Fridays for Future-Bewegung implizit und explizit aufgerufen werden. Das Symposion ist das 24. Kasseler Jugendsymposion. Für die Teilnehmer ist die Frage insbesondere virulent, weil sie Themen vorangegangener Symposien wie »Bewusstsein«, »Erleben, konkret« oder auch »Grenze« und »Raum« verbindet.

EK | Warum ist die Tätigkeit unseres Geistes – unser Bewusstsein und unser Denken – nicht mit der eines Super-Computers vergleichbar?

WS | Unser Bewusstsein ist nicht irgendwie da, sondern es ist verkörpert da. Als verkörperte intelligente Subjekte können wir beispielsweise urteilen. Das Urteilen ist weit mehr als eine logische Verknüpfung. Wenn ein Kind Spielsachen bewegt, spürt es seinen Leib neu und anders, fühlt sich aber weiterhin in sich zuhause. Aktuelle Forschungen können sehr plausibel zeigen, wie hier ein verkörpertes Urteilen vorliegt, das durch Üben zu einem gedanklichen Urteil wird.

EK | Warum haben die philosophischen Ansätze der Referenten mit künstlerischen Prozessen zu tun?

WS | Siri Hustvedt unterstreicht, dass wir, indem wir unser Leben schreiben, zugleich vom Leben geschrieben werden. Thomas Fuchs lenkt den Blick auf unser »Mit-Sein« in der Welt und beschreibt, wie wir nicht von dieser getrennt zu denken sind. Hartmut Rosa weist Resonanzprozesse als Anverwandlungsvorgänge aus. Schauspieler verwandeln sich ihren Rollen an, Rosa benutzt also die Sprache des Theaters, um seinen soziologischen und auch philosophischen Zugang darzustellen. Wie sie in Resonanz mit dem Publikum ihre Energie so steigern können, dass die Verzweiflung von Elektra uns leibhaftig erschauern lässt, so kann die Aufmerksamkeit, die Schüler und Lehrkräfte der Welt schenken, zu einer ästhetischen Bildungserfahrung werden.

EK | Was meinen Sie, ist an den behandelten Frage-stellungen von besonderem Interesse für junge Menschen?

WS | Von besonderem Interesse ist, dass die Teilnehmer von ganz unterschiedlichen Aspekten ausgehend ihr Menschsein durchdenken dürfen: Wir sind Leib und haben einen Körper; wir erleben uns als bewusstes Selbst, zugleich aber als ein Jemand in Gemeinschaft mit anderen; wir gehen im Flow auf und vergessen die Zeit und sehen uns doch als einen Punkt, der auf dem Zeitstrahl entlangwandert. Wir sind es, die als Personen ein solches Spektrum umgreifen und gestalten, während wir zugleich vom Leben geschrieben werden.

Super! – Oder?

Die Fragen stellte Mathias Maurer