Sprache lernen - nicht nur im Klassenzimmer

Eva Tilgner

Seit wann gibt es den Schüleraustausch mit Amerika?

Certain: Ein Jahr nach Nine-Eleven, dem Angriff auf das World Trade Center, meldete sich eine Mutter bei mir, die sehr begeistert war von dem Schüleraustausch ihres Sohnes mit einer Schule in St. Johnsbury. Obwohl die Stimmung nach der Krise angespannt war, setzte sich bei den Stuttgartern Eltern und Lehrern die Einstellung durch: »Jetzt erst recht!«. So kam es, dass 2002 der erste Austausch für zwölf Schüler der Freien Waldorfschule am Kräherwald und Schüler der Schule in Vermont startete.

Um welche Schulform handelt es sich bei der St. Johnsbury Academy?

Certain: Die Austauschschule ist keine Waldorfschule, dadurch lernen sowohl die amerikanischen Schüler als auch unsere Jugendlichen während des Austauschs eine neue Schulform kennen. Die St. Johnsbury Academy ist eine private High School, die auch einen größeren Teil ihrer Plätze für staatlich geförderte Jugendliche aus der Region Vermont freihält, denn weiterführende Staatsschulen sind in ihrem Einzugsbereich Mangelware.

Gracie und Michael, was habt ihr denn in den bisherigen zwei Wochen in Deutschland erlebt?

Gracie: Zunächst einmal war ich überwältigt. In Vermont leben wir auf dem Land. Einmal in einer Stadt zu wohnen ist für mich neu. Die amerikanischen Stadtzentren bestehen meistens aus Bankgebäuden und Einkaufszentren. Hier aber gibt es viele Grünflächen und Parks. Städte müssen nicht riesig sein, sondern die Menschen sollten sich darin wohlfühlen.

Michael: Ja, das Public Viewing im Schlossgarten während der Fussball-Europameisterschaft war wirklich ein Erlebnis. Die Begeisterung der Deutschen für Fußball ist so ähnlich wie die amerikanische Faszination für American Football.

Was macht ihr so mit Euren deutschen Freunden?

Gracie: Das Mädchen, bei dem ich wohne, gibt mir Insider-Tipps, die sonst die Besucher nicht bekommen, wie zum Beispiel wo es witzige Blusen und T-Shirts gibt oder wo die coolen Cafés sind.

Michael: Die Familie hat mit mir Touren unternommen zu Schlössern und anderen Sehenswürdigkeiten in der Umgebung. Da hab ich einiges kennengelernt.

Wie erlebt ihr den Unterricht an einer Waldorfschule?

Gracie: An dieser Schule gibt es so viele kreative Fächer. Vormittags können wir uns im Schmieden, Töpfern, Eurythmie und vielem mehr üben. Dafür habe ich leider bei meinem amerikanischen Stundenplan keine Zeit. Deshalb genieße ich diese Stunden besonders.

Was bedeutet das Austauschprogramm für die Schüler?

Morris: Ich glaube, dass so ein Austausch den Jugendlichen viele neue Anregungen und Ideen bietet, die sie sonst während der Schulzeit nicht geboten bekommen. Sie haben zwar schon von Europa gehört, aber durch ihren Aufenthalt in Deutschland öffnen sich ihnen andere Perspektiven. Für ihre weitere berufliche Entscheidung, was sie einmal nach dem College machen wollen, kann die Zeit in Deutschland auch eine wichtige Bedeutung bekommen.

Gracie und Michael, würdet ihr auch anderen Schülern empfehlen, an einem Austauschprogramm teilzunehmen?

Gracie: Auf jeden Fall! Obwohl ich kein Deutsch spreche, fühle ich mich, als würde ich in diesem Land leben, als wäre ich ein Teil von Stuttgart. Das ist eine ganz andere Erfahrung, die man als normale »Touristin« nicht erlebt.

Warum organisieren Sie dieses Austauschprogramm, Frau Certain?

Certain: Eine Sprache nur künstlich im Klassenraum zu erlernen, ist für mich nicht wünschenswert. Die Schüler sollten einen echten Bezug zu dem Land und zu den Menschen auf der Straße aufbauen. Als Teenager machte ich diese Erfahrung und ich möchte sie gerne weiter vermitteln. Um dies zu erreichen, erhalten die amerikanischen Schüler auch jeden Morgen Deutschunterricht bei uns und wir hoffen, dass sie auch nach ihrem Besuch in Deutschland noch weiterhin Freude an dieser Sprache haben werden.                                                    

Das Interview wurde in der Freien Waldorfschule am Kräherwald geführt.