Stricken unter Palmen

Magali-Ann Thomas

Durch ein kleines Tor gelangt man in eine grüne Oase mit Palmen, Bananenstauden und drei Gebäuden. Vom Meer weht eine sanfte Brise und die Bäume spenden Schatten. Im hinteren Teil des Schulgeländes ist ein Gemüsegarten angelegt, in der Mitte steht ein fünfeckig angelegtes Holzgerüst mit Schaukeln.

Es ist noch früh am Morgen. Die Kindergartenkinder spielen, die Schulkinder befinden sich in den Klassenräumen. Sie tragen alle Schuluniformen, wie es in Haiti üblich ist. Was nicht üblich ist: Diese Kinder lernen nicht aus Büchern. Es geht nicht darum, auswendig zu lernen, sondern darum, zu begreifen. Und es gibt noch einen Unterschied: Hier gibt es keine Schläge vom Lehrer.

Gegründet wurde die »école du village« (Dorfschule) von der Französin Miriam Silien. Sie liegt in der Gemeinde Torbeck bei Les Cayes, im Süden Haitis. Haiti ist Miriam Siliens Heimat geworden. Als Freiwillige kam sie 1996, um hier in einem Waisenheim zu arbeiten. Sie fühlte sich sofort heimisch, verliebte sich und heiratete einen Haitianer, mit dem sie heute vier Kinder hat.

Als der Älteste in die Schule kommen sollte, dachte sie erst an Homeschooling. Denn auch sie wurde als Kind zu Hause unterrichtet, bevor sie an eine französische Waldorfschule kam. Doch dann schlug ihre haitianische Freundin Marie-Claude Alegrand, die selbst drei Kinder hat, vor, eine Schule und einen Kindergarten zu gründen, denn der Bedarf an Plätzen war groß. Mehr als 80% der haitianischen Schulen sind in privater Hand. Sie werden von lokalen Initiativen, kirchlichen Institutionen oder Nichtregierungsorgani­sationen geleitet.

Am Anfang steht: Vertrauen schaffen

Als ehemalige Waldorfschülerin war für Miriam Silien von Anfang an klar, dass die Lehrmethoden von Rudolf Steiner ihre Leitlinie sein würden. »Je länger ich diese Pädagogik einsetze, umso mehr stelle ich fest, dass sie perfekt auf die Bedürfnisse der Kinder ausgerichtet ist und dass sie therapeutisch auf die haitianischen Kinder wirkt, die oft durch familiäre Umstände traumatisiert sind.«

Viele der Schüler von Miriam Silien und ihrem pädagogischen Team waren vorher an einer  haitianischen Schule. Sie können zwar Texte auswendig aufsagen, aber nicht lesen. Sie können Rechenaufgaben lösen, scheitern jedoch, wenn sie dieses Wissen in ihren Alltag übertragen sollen.

Die Kinder der Dorfschule bekommen jeden Morgen ein Frühstück und mittags eine Mahlzeit, die von den Schulköchinnen in der offenen Küche zubereitet wird. Neunzig Mahlzeiten werden jeden Tag ausgegeben. Für die Deckung dieser Kosten ist auch das Schulgeld gedacht, das umgerechnet zwanzig Euro im Jahr beträgt.

Alle anderen Kosten, etwa für die Gehälter der Lehrer und die pädagogische Weiterbildung, werden aus einem Spendentopf finanziert, für den der französische Verein Ti Gren Lavi sammelt. Ein deutscher Verein mit Namen Ti Colibri Haiti e.V. wurde im Herbst 2014 gegründet.

Seit acht Jahren gibt es die Schule und heute kann Miriam Silien sagen, dass sie Lehrer hat, die voll und ganz hinter der Pädagogik stehen, die auch bereit sind, besser bezahlte Stellen zu verlassen, um an dieser kleinen Schule zu unterrichten. Abgesehen vom Geldmangel und der rudimentären Ausstattung sieht die 40-Jährige jedoch noch eine andere große Hürde vor sich: Sie muss erst das Vertrauen der Eltern in diese Schulform gewinnen: »Wenn die Eltern nicht sehen und hören, dass ihr Kind Texte auswendig aufsagt und mit einem Ranzen voller Bücher zur Schule geht, dann glauben sie, ihre Kinder lernen nichts.«

Die Geschichte von Samuel

Miriam Silien erzählt die Geschichte von Samuel, den sein Onkel mit acht Jahren in der kleinen Dorfschule anmeldete. Als Samuel in die erste Klasse kam, war er so verängstigt, dass jede Art von Ansprache ihn erschreckte. Samuel blieb fünf Jahre an der Schule. Und aus einem unsicheren, schüchternen Kind, das stotterte, wurde ein selbstbewusster Junge, der mit jedem in Kontakt trat. Da er Legastheniker war, wurde er gezielt gefördert und lernte mit Freude lesen und schreiben. Doch dann meldeten seine Eltern ihn eines Tages von der Schule ab. Angeblich weil die Schule keine Bücher verwendet und die Nachbarn der Familie das kritisiert hatten. Jeden Tag auf dem Weg zu seiner neuen Schule kam er an der Dorfschule vorbei. Er schickte Miriam Silien Zettel mit kleinen Botschaften. Die ließ er von einem Kind aus dem Schulhof überbringen. Wenn Miriam Silien daraufhin aus der Klasse trat, um ihn zu treffen, war er schon verschwunden. Aber eines Tages konnte sie ihn aufhalten. Auf die Frage, warum ihn seine Eltern abgemeldet hatten, gab er als Grund die fehlenden Bücher an. Doch die Bücher, die er für seine neue Schule brauchte, wurden von den Eltern nicht gekauft und er stand kurz davor, aus der neuen Schule verwiesen zu werden. »Und was wirst du dann tun«, fragte Miriam Silien, »wenn du nicht mehr in die neue Schule gehen kannst?« – »Ich komme dann wieder hierher«, sagte er. Und tatsächlich kam er am Montag darauf, setzte sich zu den anderen Schülern in die Klasse und schien glücklich. Das ging einige Tage, bis seine älteren Schwestern ihn sahen und es zu Hause erzählten. Der Vater schlug Samuel und drohte ihm neue Schläge an, sollte er wieder in die Dorfschule gehen. Wenn Miriam ihm heute begegnet, dann scheint ihr das Kind wie ausgelöscht. Es redet nicht mehr mit ihr, erwidert keine Fragen, geht mit gesenktem Kopf an der Dorfschule vorbei, als wollte er sich unsichtbar machen. In seiner neuen Schule verweigert er sich: Er macht keine Hausaufgaben, ist unverschämt zu den Lehrern und prügelt sich. Das bedeutet für ihn Schläge in der Schule und auch Schläge zu Hause … Solche Fälle, wie die von Samuel, bewegen das gesamte pädagogische Team der Dorfschule. »Die Eltern haben in ihrer Kindheit selbst so wenig Anerkennung bekommen, dass ihnen das Vertrauen in ihre Kinder fehlt. Sie geben in ihrer Erziehung das weiter, was sie selber erlebt haben: Schläge,« sagt Miriam Silien.

Wenn niedrige Schulgebühren Misstrauen hervorrufen

Es scheint paradox, aber ausgerechnet die günstigen Schulgebühren ziehen das Misstrauen der Eltern auf sich. Die kleine Waldorfschule gilt als eine Schule für Arme und die wenigsten möchten von ihren Nachbarn als so arm klassifiziert werden, dass sie sich keine teurere Schule leisten könnten. Der soziale Druck ist groß. Heute hat die Schule sechs Jahrgänge und zwei Kindergartengruppen. Eine Kleinkindgruppe ist seit Herbst 2014 dazugekommen. Die frühe Förderung der Kinder erleichtert den Weg in die Schule.

Miriam Silien will die Schule langsam wachsen lassen. Dafür braucht sie jede Unterstützung. »Mein Traum ist, dass diese Schule bis zum Abitur führt und dass es eine Schule bleibt, die allen offen steht. Dass sie bis auf einen geringen Beitrag für das Essen, der durch die Eltern geleistet wird, kostenlos bleiben kann. Dass abgesehen von der Wissensvermittlung die manuelle Arbeit und die Kunst weiterhin einen großen Raum in der Pädagogik einnehmen.«

Zur Autorin: Magali-Ann Thomas hat deutsch-haitianische Wurzeln und lebt als freie Autorin in München. Ihre Tochter besucht die Münchner Waldorfschule-Südwest.

Kontakt und Newsletter über: waldorfschule-haiti@web.de