Trümmer, Tränen, Traumata

Bernd Ruf

Am Pashupati-Tempel, dem Ort der hinduistischen Leichenverbrennung in Kathmandu, steigen Tag und Nacht dunkle Rauchsäulen auf. Am größten Krematorium Nepals verbrennen Hunderte von Familien ihre Angehörigen, die Opfer des verheerenden Erdbebens wurden.

Das große Beben hat die Menschen sichtbar gezeichnet. Bisher wurden über 8.000 Tote aus den Trümmern geborgen. Drei Millionen Menschen wurden nach Angaben des UN-Büros für Katastrophenhilfe (Ocha) obdachlos. Zu ihnen zählen viele Kinder und Jugendliche, die in der Katastrophe von ihren Eltern getrennt wurden. Etwa 1,3 Millionen Minderjährige sind auf Hilfe angewiesen. Täglich suchen teilweise heftige Nachbeben das Land heim und versetzen die Menschen immer wieder in Angst und Schrecken.

Erste Hilfe für die Seele

Sunita (7 Jahre) und Rushi (6 Jahre) geraten bei den ersten Anzeichen des Bebens in Panik. Ihre Augen sind weit aufgerissen, die Gesichtsmuskulatur erstarrt. Sie rennen orientierungslos herum, schreien aus Leibeskräften und zittern am ganzen Körper. Schließlich krallen sich beide in den Arm eines Notfallpädagogen. Das Erdbeben traf das notfallpädagogische Team im Shanti Sewa Grisha in Tilganga/Kathmandu, einem Lepra-Hospital mit angeschlossenem Waisenheim und Waldorfkindergarten.

Dank der Besonnenheit der Shanti-Mitarbeiter und des professionellen Handelns des Notfallteams konnten alle Kinder und Bewohner des Zentrums auf ein freies Gelände evakuiert werden. Inmitten des Chaos begann das Notfallteam mit Akutinterventionen. Für Verletzte wurden Erste Hilfe-Maßnahmen durchgeführt und desorientierte Menschen in akutem Schockzustand mittels Stabilisierungstechniken reorientiert und beruhigt. Parallel dazu begannen notfallpädagogische Interventionen mit weit mehr als 150 Kindern. Rhythmus- und Bewegungsübungen im Kreis, körpergeografische Übungen und erlebnispädagogische Aktivitäten führten rasch zu einer Lösung der traumatischen Schockstarre. Nach einigen Stunden konnten die Kinder wieder in ihre Häuser zurückbegleitet werden.

Noch schlimmer als die Städte traf das Erdbeben die Dörfer in den Bergregionen Nepals. Viele wurden durch Bergrutsche und Geröllabgänge völlig verschüttet. Auch das Dorf Bimdhunga, zehn Kilometer nördlich von Kathmandu, wurde schwer beschädigt. In der dortigen Dorfschule bot das Team der Freunde der Erziehungskunst in Kooperation mit der nepalesischen Organisation »Read Nepal« Notfallpädagogik für täglich 350 Kinder im Alter von zwei bis vierzehn Jahren an.

Krishna (13 Jahre) zeichnet sich neben seinem Haus. Das Bild ist buchstäblich »bodenlos«. Die Augen des Jungen sind in der Zeichnung weit aufgerissen. Der Mund im Gesicht wird nicht gezeichnet. Es wird unbewusst bildhaft zum Ausdruck gebracht, was sprachlich nicht mehr ausgedrückt werden kann.

In Akutinterventionen können durch Steuerung der Augenbewegung Flashbacks unterbrochen oder durch Atemverlangsamung Panikattacken gemildert werden. Bewegungsspiele wirken Bewegungslähmungen entgegen. Der Wiederaufbau einer rhythmisierten Tagesstruktur hilft neue Ordnung in einer chaotisierten Welt zu schaffen. Ritualisierte Abläufe geben neuen Halt, Orientierung und Sicherheit. Traumatische Erlebnisse sind meist nur dadurch bewältigbar, dass man lernt, sie auszudrücken. Können Kinder über ihre Erlebnisse nicht sprechen, müssen andere, kreative Ausdrucksmittel wie Malen, Zeichnen, Musik und Tanz gefunden werden.

Ein sicherer Ort für die Kinder von Thimi

In Kooperation mit der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) wurde im Verwaltungsbezirk Thimi am Stadtrand von Bhaktapur eine Krisenintervention zur Unterstützung örtlicher Fachkräfte in einem Child Friendly Space durchgeführt. Der geschützte Raum des Zentrums soll den Kindern einen sicheren Ort zur Bewältigung ihrer traumatischen Erfahrung bieten.

Traumatisierte Kinder benötigen stabile Erwachsene, um zur eigenen Ausgeglichenheit zurückfinden zu können. Doch nach Katastrophen sind meist auch Eltern, Lehrer und pädagogische Betreuer traumatisiert.

Zu den wichtigsten Aufgaben notfallpädagogischer Krisenintervention gehört es deshalb, neben der direkten Akutversorgung von Kindern auch Lehrer und Erzieher über die Entstehung, den Verlauf und die möglichen Folgen einer Psychotraumatisierung zu informieren und notfallpädagogische Strategien im Umgang mit traumatischem Verhalten bei Kindern und Jugendlichen aufzuzeigen.

Die medizinische Versorgung und das Gesundheitswesen Nepals zeigten sich bei der Bewältigung der Erdbebenkatastrophe überfordert und brachen teilweise zusammen. Deshalb wurden an den verschiedenen Einsatzstellen des Notfallteams Tagesambulanzen eröffnet, die täglich zwischen 40 und 50 Patienten betreuten: Brüche, offene Verletzungen und schlecht heilende Wunden mussten versorgt, Ohren gespült und Abszesse geschnitten werden. Insgesamt konnten annähernd 2.000 Kinder an insgesamt zwölf Interventionstagen notfallpädagogisch betreut und etwa 60 Pädagogen in Notfallpädagogik fortgebildet werden. Desweiteren wurden etwa 250 Patienten in der mobilen Ambulanz medizinisch versorgt oder beraten.

In etwa drei Monaten planen die Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners einen Nachfolgeeinsatz im nepalesischen Erdbebengebiet. Dann sollen neben weiteren Trainingsseminaren für lokale Fachkräfte die bisherigen Einsatzstellen wieder aufgesucht, der traumaorientierte Status der Kinder festgestellt und gegebenenfalls weitere Unterstützungs- und Versorgungsmaßnahmen eingeleitet werden. Die Kinder und Jugendlichen Nepals sind die Zukunft des Landes. Sie bei der Verarbeitung ihrer Traumata zu unterstützen ist nicht nur ein Akt der Humanität, sondern auch nachhaltige Entwicklungshilfe für die Zukunft Nepals.

Zum Autor: Bernd Ruf arbeitet als Einsatzleiter im Bereich der »Notfallpädagogik« für die Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiner in Karlsruhe.

www.freunde-waldorf.de

ZDF-Beitrag über den Einsatz