Verzweifelt, verstört und verlassen. Notfallpädagogischer Einsatz in Haiti

Bernd Ruf

Ähnlich wie dem 13-jährigen Maclaye ergeht es vielen Kindern. Sie leiden an ihren schrecklichen Erinnerungen, die sie überfallen und in Todesangst versetzen. Die Kinder versuchen, alles zu vermeiden, was Erinnerungen an das traumatische Geschehen hervorrufen könnte.

Die Kinder sind traumatisiert

In einem Vorort von Port-au-Prince trifft das Nothilfeteam in der Ruine des Oreleph-Waisenheims auf dreißig völlig verwahrloste Kinder im Alter von zwei bis siebzehn Jahren. Weitere 170 werden in der Nachbarschaft betreut. Das Inventar des Heimes besteht aus einem Stuhl und zwei alten Bastmatten. Es fehlt an Trinkwasser und Nahrungsmitteln. Viele Kinder und Jugendliche suchen körperliche Nähe. Das traumatische Erlebnis ist ihnen sofort anzumerken. Die »Freunde« helfen auch in dem katholischen Kinderkrankenhaus St. Damien. Ärzte, Schwestern und Volontäre aus der ganzen Welt arbeiten hier, um das erschöpfte haitianische Personal zu unterstützen. Das gesamte Gelände ist mit Notlazaretten übersät und wird von der italienischen Armee gesichert. Zwei Tage lang können Notfallpädagogen dort mit etwa hundert Kindern erlebnispädagogisch und kunsttherapeutisch arbeiten. Auf Empfehlung der Kindernothilfe eröffnet das pädagogische Nothilfeteam in der fast völlig zerstörten Kleinstadt Leogane einen weiteren Stützpunkt. Auf dem Gelände der Schule »New Mission« haben sich zahlreiche deutsche Hilfsorganisationen um den Stützpunkt des Technischen Hilfswerks angesiedelt, darunter Caritas international, die Malteser und andere. Die Ärzte, Schwestern und Pfleger der deutschen Hilfsorganisation Navis versorgen täglich Hunderte von Patienten in einem Zeltkrankenhaus. Ein von Kubanern errichtetes Feldlazarett steht gleich nebenan. Bereits morgens um vier Uhr herrscht drangvolle Enge. Ständig werden neue Notfälle eingeliefert.

Nothelfer schaffen einen Schutzraum für Kinder

Zusammen mit etwa dreißig Lehrern und der örtlichen Hilfsorganisation Acrederp beginnt das Notfallteam mit dem Aufbau eines »Child Friendly Space« – eines geschützten Raumes für die notfallpädagogische Trauma­arbeit. Die Helfer säubern den Platz, setzen Holzpfähle und schaffen mit Plastikplanen schattenspendende Bereiche. Mit finanzieller Hilfe der Caritas wird eine Notküche eingerichtet, das Trinkwasser kommt vom Technischen Hilfswerk, die Nahrungsmittel von der Kindernothilfe und der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit.

Am allerwichtigsten für die Kinder ist eine rhythmische Tagesstruktur mit festen Essenszeiten und abwechselnden Bewegungs- und Ruhephasen innerhalb des Schutzraums. Die Kinder stehen in einem großen Kreis. Sie singen ein gemeinsames Auftaktlied, gefolgt von rhythmischen Klatsch- und Stampfübungen. Anschließend verwandelt sich der Kreis in eine ein- und ausrollende Spirale. Danach folgen eurythmische Übungen. Dann sitzen alle im großen Kreis, frühstücken, und das Wasser wird ausgegeben. Nach dem Frühstück zeichnen die Kinder Formen und malen, sie hören Geschichten, springen Seil, kneten oder singen.

Trainingsseminare für Pädagogen

In Port-au-Prince schult das Notfallteam rund 120 Lehrer, Erzieher und pädagogische Betreuer in einem ganztägigen Seminar. Es besteht aus Referaten, einer Gesprächsarbeit (auch die Erwachsenen sind oft traumatisiert) und Workshops zur Erlebnispädagogik und Kunsttherapie. In Leogane werden rund dreißig Lehrer in die tägliche Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen eingebunden. Gemeinsam entwerfen sie eine Tagesstruktur und üben Essensrituale ein. Fünfzehn Lehrer, eine Köchin und zwei Küchenhelfer sowie eine Person für administrative Tätigkeiten können zur Fortführung des »Child Friendly Space« für die Zeit nach der Abreise des Kriseninterventionsteams gewonnen werden.

Das Kindercamp wird zunächst für sieben Monate durch Acrederp fortgeführt, von der Kindernothilfe finanziert und von den »Freunden« pädagogisch begleitet. Innerhalb der nächsten Monate sind zwei Projektbetreuungsreisen vorgesehen, in deren Verlauf auch weitere Trainingskurse angeboten werden sollen. ‹›

Link: Freunde der Erziehungskunst