Vor 100 Jahren wurde die Frauensiedlung Loheland gegründet

Ulrich Traub

Schon mal etwas von Loheland gehört? Da werden wohl nur die Wenigsten mit dem Kopf nicken. Loheland ist ein versteckt liegendes, heute 55 Hektar großes Areal, wenige Kilometer von der Bischofsstadt Fulda entfernt, mit einer weitläufigen Siedlung, mit Wald und Weiden am Rande der Rhön. Vor hundert Jahren gründeten hier zwei Frauen die »Loheland Schule für Körperbildung, Landbau und Handwerk«, eine Pioniertat weiblicher Selbstbestimmung.

1912 hatten sich die Gymnastinnen Louise Langgaard (1883-1974) und Hedwig von Rohden (1890-1987) am »Seminar für klassische Gymnastik« in Kassel kennengelernt. Ihr Ziel »Durchbildung des Körpers zur natürlichen Entwicklung und Ausbildung seiner Fähigkeiten« konnten die beiden Frauen durch den Kauf des Loheland-Geländes im Jahr 1919 endlich im ganzheitlichen Sinne verfolgen. Die Anhängerinnen der Anthroposophie Rudolf Steiners strebten nach einer der Zeit angemessenen Bildung für Frauen.

»Im Zentrum stand damals die Gymnastik«, erläutert Ursula Grupp, »sie bildete die Grundlage der ästhetischen Erziehung, die alle Bereiche des Lebens durchdringen sollte.« Die Geschäftsführerin der Loheland-Stiftung erwähnt die diversen Werkstätten, in denen sich die Frauen schulten. »Loheland-Produkte waren begehrt und wurden erfolgreich auf Kunstgewerbe-Messen präsentiert.« Nach und nach waren die Weberei, die Schneiderei, die Schreinerei sowie die Töpferei entstanden. Und es gab die Lichtbild-Werkstatt, deren Foto-Experimente mit Bauhaus-Arbeiten verglichen wurden. Landwirtschaft war von Anfang an ein Standbein – immer bio-dynamisch nach Demeter-Richtlinien. »Die Frauen waren Selbstversorgerinnen und größtenteils auch Autodidaktinnen«, betont Ursula Grupp.

Verwunderlich, dass dieser außergewöhnlichen Erfolgsgeschichte heute ihre weitgehende Vergessenheit gegenübersteht. »Die Tänzerinnen aus Loheland waren zu Beginn der 20er-Jahre sogar auf den Bühnen der Welt zuhause«, erinnert die Geschäftsführerin an eine der Folgen der Gymnastikausbildung. Sie erwähnt auch das Kuriosum der frühen Jahre, die Doggen-Zucht. Aus Hundeliebe entstanden, wurde schnell eine professionelle Zucht aufgebaut. Und schließlich kaufte nicht nur der Bürgermeister von New York eine Dogge aus Loheland.

»Ein geschicktes Marketing der Damen half beim Absatz der eigenen Erzeugnisse«, ergänzt die gelernte Betriebswirtin Grupp. »Selbst für ihre Lebensmittel machten die Bewohnerinnen erfolgreich Werbung.« Die Einnahmen ermöglichten den Aufbau der Siedlung, denn 1919 hatten die Gründerinnen lediglich brachliegendes Ackerland erworben. »Der Bau aller Häuser wurde aus Eigenmitteln bestritten«, weiß Ursula Grupp, die selbst in Loheland lebt – wie rund 70 weitere, junge und alte Menschen. Nicht selten stammte der Entwurf der Gebäude von Louise Langgaard.

Fast alles war möglich, Vorschriften existierten nicht und das kreative Vermögen der Loheländerinnen stand dem anderer Reformschulen nicht nach. Es war die Zeit gewünschter Umbrüche, neuer Lebensentwürfe und Utopien. Erster Weltkrieg und Monarchie waren Vergangenheit, die Moderne konnte endlich Fahrt aufnehmen. »Umwandlung des ganzen Lebens und des ganzen inneren Menschen«, postulierte Bauhaus-Direktor Walter Gropius. Der 100. Geburtstag bietet nun eine späte Gelegenheit, an den Beitrag der Frauen Lohelands an dieser Entwicklung zu erinnern.

Loheland im Sommer 2019: Aus einem Klassenzimmer schallen Flötentöne, auf dem Hof stehen Schüler und Schülerinnen, viele schauen auf ihre Smartphones, über einen Weg werden Esel geführt, nebenan gackern die Hühner. Im Bioladen stellt sich eine Kundin eine Obst- und Gemüsekiste zusammen. Im Tagungshotel wird saubergemacht, während auf dem Parkplatz gegenüber ein Zirkustransporter manövriert. »Loheland hat sich verändert«, sagt eine alte Dame, die in der Gärtnerei Teepflanzen umtopft. Sie muss es wissen. »Ich wohne seit 60 Jahren hier«, bemerkt sie nicht ohne Stolz.

Ursula Grupp bestätigt das. Die Werkstätten hätten nach und nach ihren Betrieb eingestellt und auch die Gymnas-tikausbildung gebe es seit 2007 nicht mehr. »Der rote Faden, der sich durch die gesamte Entwicklung Lohelands zieht, ist aber die Anthroposophie geblieben«, erklärt die Geschäftsführerin, die seit sechs Jahren für die Stiftung tätig ist und die Vielfältigkeit ihrer Aufgaben schätzt. Loheland hat auch heute noch viele Gesichter, wenn auch andere – und viele sind sogar männlich.

Hauptstandbein ist die Gesamtschule, die seit den 70er-Jahren als Waldorfschule anerkannt ist und an der über 500 junge Menschen unterrichtet werden. Daneben gibt es einen Kindergarten, die Fachschule für Sozialassistenz, die Akademie für Fortbildung sowie die bio-dynamische Landwirtschaft. »Wir überlegen zurzeit, wie wir die ästhetische Bildung wieder stärker integrieren können«, formuliert Ursula Grupp eines ihrer Anliegen. Ein erster Schritt sei der Erwerb einer aufgegebenen Schreinerei gewesen. »Seit Anfang September ist sie in unseren Ausbildungsalltag eingegliedert.« Dort sollen Schulmöbel hergestellt werden – »auch zum Verkauf«, hebt Ursula Grupp hervor. In der Schreinerei der 20er-Jahre waren vorrangig Möbel für die neuen Häuser produziert worden.

In der Architektur ist das alte Loheland am sichtbarsten geblieben. 17 erhaltene Gebäude aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg stehen heute unter Denkmalschutz. Gleich am Eingang der heute wieder über 40 Bauten umfassenden Siedlung steht das so genannte Steinhaus, ein Rundbau mit mehrteilig aufragender Dachlandschaft. Ein paar Schritte weiter erinnert das Eva-Haus an die expressionistische Tänzerin und Künstlerin Eva Maria Deinhardt, die dort gelebt hat. Sein Markenzeichen, das spitze Satteldach. Beide Gebäude sind mit Natursteinen aus dem Loheland-Steinbruch errichtet und symbolisieren Geborgenheit. An hohe Improvisationskunst erinnert die Waggonia, vier Zugwaggons, die die Loheländerinnen 1925 von der Reichsbahn gekauft hatten. Sie werden aktuell denkmalgerecht restauriert, um sichtbar zu machen, dass sie damals auf Fundamente gesetzt und mit Holz verkleidet worden waren.

In hundert Jahren gab es im Loheland keinen einschneidenden Bruch? »Nein, nie hat jemand von außen entscheidenden Einfluss ausgeübt«, blickt Ursula Grupp zurück. Auch nicht während der Nazi-Diktatur, obwohl die Einrichtung unter Beobachtung stand, wurde sie nie geschlossen. »Und es muss wohl auch einen Unterstützer in Berlin gegeben haben«, vermutet die Geschäftsführerin. »Unsere Forschungen zu diesem Thema sind aber noch nicht so weit.« Dazu muss man wissen, dass das Archiv Lohelands überwiegend ehrenamtlich betreut wird. Hedwig von Rohden hat Loheland 1937 im Streit verlassen und kam erst nach dem Tod Langgaards zurück. Auf dem Loheland-Friedhof sind die beiden Gründerinnen wieder vereint.

Vor hundert Jahren war das Leben der Frauen im Loheland eine Provokation. Und heute? »Für viele konservative Menschen sind wir das noch immer«, weiß Ursula Grupp. Das Jubiläum ist ein willkommener Anlass, dies zu ändern. Loheland kann auch heute noch Anregungen für eine immer notwendiger gewordene, alternative Lebensform geben.

Information: Loheland, in Künzell-Dirlos bei Fulda; 0661/3920, www.loheland.de.

Jubiläumsausstellung: »Loheland 100 – Gelebte Visionen für eine neue Welt«, Vonderau Museum Fulda, 27. September bis 5. Januar; www.museum-fulda.de. Erstmalig erinnert eine Ausstellung umfassend an die Geschichte der Frauensiedlung, vor allem die Zeit bis 1933, mit zahlreichen originalen Arbeiten aus den Werkstätten.