Waldorf-Ehemalige. Eine Schulform mit Entwicklungsaufgaben

Erziehungskunst | Sie haben eine Studie zu ehemaligen Waldorfschülern durchgeführt. Was waren Ihre Fragen und was wollten Sie herausfinden?

Dirk Randoll | 2007 haben mein Kollege Professor Heiner Barz von der Universität Düsseldorf und ich eine erste umfangreiche Befragung unter ehemaligen Waldorfschülern durchgeführt und publiziert. An diese damalige Studie wollten wir inhaltlich anknüpfen, aber auch gegenwärtige Themen wie etwa den Umgang mit neuen Medien im Unterricht in den Blick nehmen. Unser Fragebogen, der von annähernd 3.000 Ehemaligen beantwortet wurde, umfasst elf offene Fragen und 81 Fragen mit vorgegebenen Antwortmöglichkeiten zu den Bereichen »Schul- und Berufsbiographie«, »Die Zeit in der Waldorfschule«, »Zukunftsgestaltung von Schule und Gesellschaft« sowie »Biographische Entwicklungen nach der Schulzeit«.

EK | Wie haben Sie die Ehemaligen befragt?

DR | Die Befragung wurde von der Pädagogischen Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen koordiniert und erfolgte online. Finanziell ermöglicht hat diese Untersuchung u.a. die Software AG-Stiftung. Bei ihrer Auswertung haben uns vor allem die Antworten der sogenannten »Millennials«, das sind die zum Zeitpunkt der Befragung 18- bis 39-Jährigen, interessiert, die gut 60 Prozent der Gesamtstichprobe ausmachen.

EK | Was haben sie Ihnen im Wesentlichen geantwortet?

DR | Die Ehemaligen heben vor allem das Gemeinschaftserleben, das soziale Miteinander sowie die vielen Freundschaften, die sie während ihrer Schulzeit knüpfen konnten, positiv hervor. Besonders schätzen sie neben dem Respekt und der Anerkennung, die sie an der Waldorfschule erfahren haben, auch die zahlreichen Angebote zur Entwicklung der eigenen Persönlichkeit etwa durch die Förderung ihrer Kreativität und sozialen Kompetenz sowie die Möglichkeit, sinnvolle Lerninhalte frei von Leistungsdruck bearbeiten zu können. Deshalb überrascht es auch nicht, dass fast 90 Prozent angeben, sie würden heute wieder auf eine Waldorfschule gehen, wenn sie die Wahl hätten. Drei Viertel der Befragten würden ihren eigenen Nachwuchs ebenfalls dorthin schicken.

EK | Welche Vorurteile über Waldorfschulen wurden bestätigt?

DR | Waldorfschulen sind kostenpflichtig, weshalb ihnen häufig vorgeworfen wird, nicht für alle Kinder gleichermaßen zugänglich zu sein. Grundsätzlich stehen waldorfpädagogische Einrichtungen jedoch allen Heranwachsenden unabhängig von Herkunft, Religion oder finanziellem Hintergrund offen. Das Schulgeld wird mitunter an das Gehalt der Eltern angepasst. Trotzdem denkt man bei Privatschulen immer auch an Bildungseliten. Und tatsächlich: Waldorfschulen werden vor allem von Schülern besucht, deren Eltern hohe Anforderungen an die Bildung ihrer Kinder stellen. So haben fast 80 Prozent der befragten Ehemaligen die Waldorfschule mit dem (Fach-)Abitur abgeschlossen, was weit über dem Bundesdurchschnitt von knapp 48 Prozent liegt. Als eher unterdurchschnittlich beurteilen die Ehemaligen hingegen die schulische Förderung in Bezug auf ihre eigene Medienkompetenz, womit das verbreitete Klischee von einer medienkritischen Haltung an Waldorfschulen bestätigt wird.

EK | Wie könnte man diesem Klischee begegnen?

DR | Beim Umgang mit neuen Medien im Unterricht hat sich in den letzten Jahren bereits einiges getan. Sowohl an der Freien Hochschule Stuttgart als auch an der Alanus Hochschule wird mit Hochdruck an der Entwicklung von Unterrichtskonzepten zur Medienerziehung an Waldorfschulen gearbeitet. Auch in der Lehrerbildung gerät das Thema zunehmend in den Fokus. Andernorts – etwa an interkulturellen Waldorfschulen oder an den sich gerade neu etablierenden handlungspädagogisch orientierten Einrichtungen – entstehen Zugänge für Schüler, die kein Abitur machen können oder wollen. Allerdings gibt es bisher noch viel zu wenige davon.

EK | Welche Ergebnisse haben Sie am meisten überrascht?

DR | Am meisten hat mich neben dem hohen Abiturientenanteil die Häufigkeit überrascht, mit der an Waldorfschulen speziell in der Oberstufe Nachhilfe in Anspruch genommen wird. Das weist auf einen Wechsel in der Lernkultur hin, den auch die Ehemaligen in der Studie klar benennen: Während sie bis Klasse 10 Zeit zum eigenen, entdeckenden Lernen gehabt hätten, ging es in den höheren Klassen vor allem um das Lernen vorgegebener und reproduzierbarer Inhalte für staatliche Abschlüsse. Auch, dass über 97 Prozent der Befragten aus einem deutschsprachigen Elternhaus kommen, war für mich bemerkenswert. Zumal der Impuls der Waldorfschule ursprünglich ein ganz anderer war: Rudolf Steiner schwebte eine Schule vor, in der das Arbeiterkind gemeinsam mit dem Akademikerkind unterrichtet werden sollte.

EK | Wie wirkt sich die Schulzeit an der Waldorfschule auf den biographischen Werdegang der Schüler aus?

DR | Die Hälfte der Befragten gibt an, dass die Anthroposophie in der einen oder anderen Form für die gegenwärtige Lebenshaltung und Werteorientierung eine Rolle spielt – etwa bei der Ernährung oder der Erziehung der eigenen Kinder. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung sind ehemalige Waldorfschüler zudem nicht nur häufiger ehrenamtlich oder politisch engagiert, sondern ergreifen auch öfter soziale oder künstlerische Berufe.

EK | Was sollten Waldorfschulen aus Sicht der Ehemaligen unbedingt anders machen?

DR | Für die Ehemaligen ist neben der Vermittlung von Medienkompetenz die Rekrutierung junger, fachlich und methodisch-didaktisch qualifizierter Lehrkräfte eine der zentralen Herausforderungen der Waldorfschulen. Auch die Überarbeitung des achtjährigen Klassenlehrerprinzips in seiner traditionellen Form, der Umgang mit Leistungsanforderungen sowie die Vorbereitung auf das Leben nach der Schule sind nach Ansicht der meisten Befragten essenziell. Darüber hinaus hätten sich viele während ihrer eigenen Schulzeit eine kritischere Auseinandersetzung mit den Schriften Rudolf Steiners bzw. mit der Anthroposophie sowie eine stärkere Öffnung für aktuelle Themen aus Gesellschaft, Kultur, Politik und Wissenschaft gewünscht.

EK | Worin läge also eine Aufgabe des Bundes der Freien Waldorfschulen?

DR | Diese sehe ich darin, die nötigen Rahmenbedingungen für die Weiterentwicklung der Waldorfpädagogik zu schaffen. Dabei gilt es einerseits auf der bewährten Praxis aufzubauen, anderseits Neues auszuprobieren. So kann es beispielsweise hilfreich sein, den Blick auch auf andere, alternative pädagogische Ansätze zu richten und aktiv den Dialog mit ihren Vertretern
zu suchen.

Das Interview führte Mathias Maurer