Waldorf von unten

Mathias Maurer

Als »Bildung von unten« bezeichnete die ehemalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, was die Interkulturelle Waldorfschule in Mannheim seit ihrer Gründung im Jahre 2003 betreibt: Sie nimmt sich der Kinder mit Migrationshintergrund aus einem sozialen Brennpunkt an und unterrichtet sie gemeinsam mit Kindern aus bildungsnahen Schichten.

Waldorfschulen gelten als ziemlich elitär. Kinder aus den unteren Einkommensschichten oder Migrantenkinder, lautet das Vorurteil, seien dort kaum anzutreffen. Dabei wollte Emil Molt, Direktor der Zigarettenfabrik Waldorf Astoria und Begründer der ersten Waldorfschule in Stuttgart, diese Schule für die Kinder seiner Arbeiter. Er lud Rudolf Steiner ein, dafür das pädagogische Konzept zu entwickeln. Damals war das eine ziemlich revolutionäre Angelegenheit: Fremdsprachen ab der ersten Klasse, Koedukation, kollegiale Selbstverwaltung, nicht zu vergessen, das exotische Bewegungsfach Eurythmie  – und das alles für Kinder aus der Unterschicht.

Die Schere öffnet sich auch an den Waldorfschulen

Die Waldorfschulen erfahren weltweit von Russland bis China einen Gründungsboom. Inzwischen gibt es an die tausend Waldorfschulen und nicht wenige in den ärmsten und von Krisen geschüttelten Regionen der Welt: in den Slums von Calcutta und Sao Paulo, in den Townships Südafrikas, in Palästina und Israel, in Indianerreservaten Nordamerikas – quer durch alle Ethnien, Religionszugehörigkeiten und Glaubensrichtungen. Auch in Deutschland wird weitergegründet: Geht in den Großstädten wie Berlin, Hamburg, Stuttgart nichts mehr unter einem halben Dutzend, trifft man inzwischen in nahezu jeder mittelgroßen Kreisstadt, ja in den scheinbar menschenleeren Gegenden des Südschwarzwaldes oder des Wendlandes auf eine Waldorfschule. Ihre Klientel kommt  aus allen Bevölkerungsschichten – nicht selten sitzen in den heutigen Klassen mehr als die Hälfte Scheidungskinder, Kinder von Alleinerziehenden oder Sozialhilfeempfängern. Ohne dass ihnen die besser verdienenden Elternhäuser unter die Arme greifen würden, könnten sie diese Schule nicht besuchen. Die soziale Segregation hat auch die Waldorfschulen erreicht. Von Elitetum also keine Spur.

Hundert Jahre später hat die Interkulturelle Waldorfschule Mannheim im sozialen Brennpunkt Neckarwest diesen revolutionären Impuls aufgegriffen. Zwischen Asia Shop, Hüti Verdi Supermarkt, zwischen Wettbüro, Teppichgroßhandel und Moschee, hat sie seit dem 11. September 2003  in einem schmucklosen Industriebau ihr Domizil. In Erwartung einer augenfälligen Architektur würde man an der schlichten Aluminiumtür vorbeigehen, fiele der Blick nicht zufällig auf ein kleines Holztäfelchen. Eine kahle Treppe führt hinauf – wie in einem anonymen Wohnblock. Erst wenn man im ersten Stock durch den Etageneingang kommt und in einen großen zentralen Raum tritt, von dem Türen und Gänge abgehen, fällt das suchende Auge auf die bekannten Waldorfbilder an der Wand. Es ist Unterricht, kein Schüler, kein Lehrer kreuzt den Weg. Hinter einer Tür stampfen im Takt Füße auf den Boden, dazu werden türkische Gedichte rezitiert. Hinter einer anderen Tür hört man Gitarrenklang zu englischen Liedern. Hinter anderen ist es still.

Ich komme in die erste Klasse. Da stehen die Kinder und singen lauthals »Jetzt kann ich singen das ABC«. Klassenlehrer Christoph Doll begleitet sie auf der Gitarre. Es folgt das Gedicht »Fliege Funke, flieg’ vom Stein«. Die Kinder klatschen dazu; man sieht die Funken förmlich stieben. Im rhythmischen Teil des Unterrichts, durch musikalisches und sprechendes Üben, bildet sich das Sprachgefühl. Multikulturell wird es auch im anschließenden Erzählteil: die Kinder tauchen in die Welt der Märchen der Völker und in die Mythen und Sagen der verschiedenen Kulturen ein. Die Schulglocke ertönt, Türen fliegen auf, Kinder stürmen heraus, hell- und dunkelhäutige. Es ist Mittagspause. Auf dem Speiseplan stehen Falafel, Kichererbsen, Salat und Quarkspeise.

Keine Integration ohne gegenseitige Wertschätzung

In dem Mannheimer Stadtteil Neckarstadt-West, in dem die Schule liegt, beträgt der Ausländeranteil 45 Prozent, an der Schule knapp über 50 Prozent. Das Spektrum der Elternhäuser reicht von wenigen gut situierten Mittelständlern

bis zu Hartz IV-Empfängern, von Kindern aus traditionell islamischen Familien bis hin zu amerikanischen Eltern, die bewusst Multikulti für ihre Kinder wollen. Über 40 Prozent der Kinder kommen mit Lernschwierigkeiten in die Schule, das Jugendamt und das Frauenhaus bitten immer öfter um Aufnahme von auffälligen Kindern.

250 Schüler aus zwanzig Ethnien in neun Klassen werden heute von über 30 Lehrern aus sechzehn Nationen unterrichtet. Trotzdem herrscht keine babylonische Sprachverwirrung, denn die allgemeine Unterrichtssprache ist Deutsch und die wird ab dem ersten Schuljahr besonders geübt. Viele Kinder, die eingeschult werden, können weder Deutsch noch ihre Muttersprache richtig sprechen. Das Integrationsmodell der Mannheimer ist so einfach wie überzeugend. Wären sie eine normale Sprengelschule würden 90 Prozent der Kinder mit Migrationshintergrund die Schule besuchen – mit all den bekannten Problemen, wie wir sie seit dem Rüttli-Alarm und der zunehmenden Ghettoisierung kennen. »Wie soll sich mein Kind denn hier integrieren, wenn nur zwei Kinder in der Klasse Deutsch sprechen«, sagt eine türkische Schülermutter. Integration ist nur sinnvoll, wenn man weiß, in was denn integriert werden soll. Deshalb muss mindestens die Hälfte der Schülerschaft deutscher Herkunft sein und Deutsch sprechen. Sind die Kinder erst einmal in dieser neuen Umgebung heimisch geworden, färbt das schnell auf die Familien ab und eine reiche Arztfrau und eine türkische Mutter erzählen sich gegenseitig aus ihrem Leben. »Ganze Bauchläden von Vorurteilen werden dadurch abgebaut«, so der Klassenlehrer Doll. Und die gegenseitige Wertschätzung wächst.

Die Lehrer gehen mit zum Frisör oder aufs Amt

Die Lehrer gehen in die Familien. Sie übernehmen Sozialarbeiteraufgaben, gehen mit zum Frisör, zum Arzt oder aufs Amt und durchbrechen die »familiären Muster der Perspektivlosigkeit«, wie Doll es ausdrückt. Bildung genießt in diesen Schichten in der Regel keine hohe Wertschätzung. Für die neuesten Marken-Sneakers, Handys und Nintendo-Geräte wird das Geld eher ausgegeben als für die schulische Bildung der Kinder. Entsprechend niedrig ist der Schulgeldbeitrag, auf den auch diese Schule, als Schule in freier Trägerschaft angewiesen ist, da die staatlichen Zuschüsse nur knapp die Hälfte des Schulhaushaltes abdecken. 30 Prozent der Elternhäuser können nichts bezahlen, selbst nicht den durchschnittlichen Beitrag von monatlich 40 Euro pro Kind. Das Defizit mildern Zuschüsse der Stadt Mannheim und Stiftungen, zum Beispiel auch türkischer Unternehmen.

Wenn sich ein deutscher Schüler als Ausländer erlebt

Inzwischen sind Wissenschaftler auf dieses Schulprojekt aufmerksam geworden und Universitäten schicken ihre Doktoranden hierher. Im Herbst 2004 begann eine mehrjährige wissenschaftliche Begleitung. Erste Untersuchungsergebnisse liegen vor und wurden in Buchform veröffentlicht. Im Zentrum der Studien stehen Sprachanalysen und der Erwerb der Sprachkompetenz.

Für Michael Brater von der Gesellschaft für Ausbildungsforschung und Berufsentwicklung in München ist die Interkulturelle Waldorfschule der Beweis dafür, dass nicht durch spezielle Sprachförderung, wie sie die deutsche Integrationspolitik vorschreibe, erfolgreich eingebürgert werde, sondern durch »Sprachbäder«. Anfangstests zeigten, dass keines der Kinder bei Schulbeginn die deutsche Sprache richtig beherrschte. Nach drei Jahren, stellt der Leiter des Instituts für Interkulturelle Pädagogik, Albert Schmelzer, fest, haben sich durch das Konzept der »Begegnungssprache« ohne spezielle Sprachförderung sowohl die Lernschwierigkeiten als auch die sozialen Defizite aufgelöst. Indem unterschiedliche Sprachen zum integralen Bestandteil des Schulalltags werden und die Kinder jahrgangsübergreifend von der ersten bis zur dritten Klasse mit zwei Wochenstunden in unterschiedlichen Sprachen sprechen. »Die soziale Integrationsleistung der Kinder war dadurch enorm«, lobt Brater. Wenn sich ein deutscher Schüler in einer auf Serbokroatisch oder Türkisch gehaltenen Schulstunde als Ausländer erlebt, kommen die Kinder mit Migrationshintergrund nicht selten erstmals in den Genuss, etwas in ihrer Muttersprache darzustellen. Es stärkt ihr Selbstbewusstsein, wenn sie in ihrer eigenen Sprache vom Brauchtum und der Kultur ihres Herkunftslandes erzählen und dessen Lieder singen. Intensiviert wird dieses Begegnungslernen durch den Ganztagsschulcharakter, mit gemeinsamem Mittagessen und handlungsorientiertem Nachmittagsunterricht – wie zum Beispiel Theater, Leseprojekten, Gartenbau und Streitschlichtung. Dazu kommen die zahlreichen religiösen und weltlichen Feste, die alle gefeiert werden und zu denen viele Eltern Musikalisches und Kulinarisches beitragen.

Inzwischen kommt die Mannheimer Interkulturelle Schule in der Oberstufe an und das Kollegium treibt die Frage um, mit welchen Abschlüssen und Qualifikationen sie die Schüler entlässt. Die Schule bietet berufsvorbereitende Ausbildungsmöglichkeiten an und die Schüler gehen für einen Tag in der Woche in einem Handwerksbetrieb arbeiten.

Integration ist ein Testfall für die Gesellschaft

Eine Waldorfschule, die die Kluft zwischen den sozialen Schichten  überwindet, knüpft konsequent an den einstigen Gründungsimpuls an. Die Idee findet inzwischen Nachahmer: Weitere interkulturelle Waldorf-Initiativen sind in Stuttgart, Hamburg und Dortmund entstanden. An diesen Orten werden Menschen aktiv, da die staatliche Integrationspolitik versagt. Man kann Rita Süssmuth nur zustimmen, wenn sie die Integration als einen »Testfall für die Gesellschaft« beschreibt für den sie auch die angemessene staatliche Unterstützung fordert. Diesen Test hat die Interkulturelle Schule in Mannheim mit ihrem Kernmotiv »Die Fremdheit überwinden« erfolgreich bestanden.

Literatur: M. Brater, C. Hemmer-Schanze, A. Schmelzer: Schule ist bunt. Interkulturelle Waldorfschule im sozialen Brennpunkt, Stuttgart 2007 / M. Brater, C. Hemmer-Schanze A. Schmelzer: Interkulturelle Waldorfschule. Evaluation zur schulischen Integration von Migrantenkindern, Wiesbaden 2009