Waldorfschule im Indianerreservat. Bei den Lakota in Pine Ridge

Kyra Karastogiou

»Schneestürme im April und Mai sind keine Seltenheit«, meint die Schweizerin Isabel Stadnick, als sie mich in Rapid City abholt. Seit 1989 lebt sie in Pine Ridge, einem Reservat, das so groß ist wie Baden-Württemberg, Heimat von rund 30.000 Lakota-Oglala-Indianern, bei uns bekannt als Sioux. Wir biegen an einem kugeldurchlöcherten Schild ab. »Letztes Jahr im Oktober, da wurden wir alle vom Winter überrascht und die schwarzen Rinder draußen sind massenhaft erfroren. Noch sieht man ab und zu Kadaver liegen und abgebrochene Bäume.«

Mir geht durch den Sinn, wie gnadenlos unwirtlich die Lebensbedingungen hier in der Prärie sind: keine Berge, die den Wind abhalten. Es ist ein Land der Extreme, im Winter bis zu minus vierzig, im Sommer bis zu plus vierzig Grad.

Wie mussten damals, Ende des 19. Jahrhunderts, die Lakota gelitten haben, als die meisten Büffel ausgerottet waren, sie ihre Lebensgrundlage verloren hatten und ungeschützt hierher nach »Wounded Knee« getrieben wurden, wo am 29. Dezember 1890 das Massaker durch das 7. US-Kavallerieregement diesem einst so freien, stolzen Volk ein Ende bereitete.

Wir kommen an. Die Holzhäuser des Schulgeländes mit den Pferdebildern sehen hübsch aus, sie sind innen fein lasiert, der Spielplatz und die Holzspielsachen laden zum Spielen ein.

Zu meiner Überraschung leben im Klassenzimmer auch junge Hühnchen, die von den Schülern versorgt werden und später die Schule mit frischen Eiern versorgen werden. Ein Hühnerhaus ist in Bau.

Entstehung der Lakota-Waldorfschool

Einige besorgte Eltern aus dem Reservat trafen sich 1992 mit Bob und Isabel Stadnick, um mit ihnen über die mangelhafte Kindergarten- und Schulbildung ihrer Kinder zu reden. Bob, der Ehemann Isabels war Lakota; er starb 1997. Isabel war Schülerin an der Waldorfschule Basel. Ihre Erzählungen von ihrer eigenen Schulzeit weckten den Wunsch nach einer solchen Schule. Könnten sie hier im Reservat nicht eine Waldorfeinrichtung aufbauen und die Lakota-Kultur einfließen lassen?

Auch die Sprache der Lakota sollte in dieser Schule wieder erklingen. Sie erkundigten sich bei Heinz Zimmermann, dem damaligen Leiter der Pädagogischen Sektion am Goetheanum in Dornach, ob die Lakota-Kultur mit der Waldorfpädagogik vereinbar sei. »Es wäre keine Waldorfpädagogik, wenn sie nicht die Kultur des jeweiligen Volkes beinhalten würde und diese in ihr einen Platz fände«, war seine Antwort. Daraufhin entstand 1994 der erste Waldorfkindergarten in einem Indianerreservat!

Die Lakota-Waldorf-Schule wurde jahrelang als Kindergarten geführt, bis 2012 eine erste Klasse mit sieben Kindern entstand. Da viele Kinder in einer unstabilen Familiensituation leben, war und ist die Fluktuation hoch. Während meines Aufenthalts sind in der Kindergartengruppe zwischen 14 und 18 Kinder und es gibt eine altersgemischte 1./2. Klasse. Inzwischen hat sich eine neue erste Klasse mit mehreren Schülern gebildet. In den ersten Jahren nach der Gründung der Schule hatte ein Waldorflehrer sein Freijahr an der Schule verbracht. Es wurde aber bald deutlich, dass die Schule ihre eigenen indianischen Lehrer ausbilden muss – inzwischen sind alle Lehrer Lakota-Stammesmitglieder. Eine amerikanische Waldorflehrerin verbringt mehrere Wochen im Jahr hier, um die Lehrer zu unterstützen. Diese bilden sich im Sommer am Waldorf-Lehrerseminar weiter.

Die Seminare liegen weit weg und die Kosten sind beträchtlich. Dank einer guten Verbindung mit der Waldorfschule in Denver dürfen die Lakota-Lehrer jedes Semester eine Woche dort verbringen und Erfahrungen sammeln.

Ein Schultag

Wenn die Kinder morgens nach einer mehr als eineinhalbstündigen Busfahrt durch die Tür treten, spüre ich ihr wohliges Aufatmen: »Hier ist die Welt in Ordnung.« Sie erleben, hier ist ein geschützter Ort für sie. Es ist für die Kinder ein warmes Zuhause, ein Stück heile Welt, in der sie Zuwendung, Ruhe und Rhythmus erfahren dürfen. Der Morgen beginnt im Kreis mit einem Lakota-Lied und einem gemeinsamen warmen Frühstück für alle. Die Köchin brät Eier, Bratkartoffeln oder kocht Haferbrei. Das Fleisch kommt von der stammeseigenen Büffelherde, die auf einem riesigen Landstück gehalten wird. Dazu gibt es mit Honig gesüßten Tee. Ein reichhaltiges Mahl für die Kleinen! Dann spielen die Kindergartenkinder erstaunlich friedlich und in kleinen Gruppen mit den Holzklötzen, mit den Puppen und den Holztieren, sie breiten Felle und Tücher aus, errichten Phantasiereiche.

Die Schulkinder gehen derweil in das kleine Schulhaus, wo ich mit der Klassenlehrerin gemeinsam unterrichte. Wir singen, tanzen, sprechen die Zahlenreihen und gestalten das Heft. Mich beeindruckt, wie selbstverständlich die Kinder ihrer Lehrerin folgen und wie dankbar sie für jede Zuwendung sind. Manche Kinder haben deutlich sprachliche Defizite, da sie wenig Aufmerksamkeit bekommen, keiner genügend mit ihnen spricht, zu Hause nicht gekocht wird, sie oft umgeben sind von trostloser Lethargie. Ich erfahre von meist schwierigen häuslichen Verhältnissen: Ein Leben in viel zu engem Raum, oft leben sie zu zehnt in einem Holzhäuschen, häusliche Gewalt ist ein großes Thema und tritt häufig im Zusammenhang mit Alkoholmissbrauch auf. Davon ist hier kaum etwas zu spüren. Es wird Brot gebacken, duftendes Bienenwachs geknetet, gefilzt und gesungen, mit Wasser­farben gemalt, gegärtnert. Jeder Tag bringt seine Aufgabe.

Nach dem Unterricht gibt es für alle, sitzend im großen Kreis, ein warmes Mittagessen, frisch zubereitet zum großen Teil aus biologischen Produkten. Die Schule besitzt einen Garten, der von den Schülern mit bewirtschaftet wird. Das gute Essen soll helfen, den Gesundheitsproblemen, wie Übergewicht und Diabetes frühzeitig vorzubeugen und die Eltern darauf aufmerksam zu machen, wie wichtig die Ernährung der Kinder ist.

Wenn um 15 Uhr die Kinder mit dem schuleigenen gelben Bus nach Hause fahren, beginnt die Weiterbildung für die Pädagogen. Es geht um die Dreigliederung des Unterrichts und die Gestaltung des Tages, wir stricken, flöten, rezitieren und singen. Am nächsten Morgen setzen wir die Theorie in Praxis um. Die Kinder freuen sich über die morgendliche »Lokomotive« im Klassenzimmer, die im 2er-, 3er-, 4er-Rhythmus von Rapid City ferne Orte bereist oder über die von ihrer Klassenlehrerin frei erzählte Legende des großen Crazy Horse.

Ein Zirkus-Ausflug

In der Konferenz erfahre ich von dem großen, alljährlichen Event: Alle Schulen des Reservates sind im zwei Stunden entfernten Rapid City zu einer großen Zirkus-Vorstellung eingeladen. Alle sind aufgeregt, da es im Alltag sehr wenig Abwechslung gibt. Vor dem riesig großen Zirkus parken mehr als dreißig Schulbusse. Bevor die eigentliche Vorstellung beginnt, werden von den paar Dollars, die die Eltern den Kindern mitgegeben haben, rosa Zuckerwatte, grell leuchtende Eiscrashgetränke in blinkenden Gläsern und leuchtende »toys« gekauft. Trotz der großen finanziellen Schwierigkeiten der Eltern gehören diese Souvenirs einfach dazu. Und wie Naomi They Like Her (das ist ihr Name), eine der Pädagoginnen, mir versichert: »This is America!«

Dementsprechend sehen auch die Zähne der Kinder aus, einige der Kleinsten haben Metallhülsen vom Reservatskrankenhaus auf ihren Zähnen, da Karies allgegenwärtig ist.

Nachdem alle, die noch Geld hatten, auf den Kamelen und Elefanten geritten sind und die Nationalhymne vor den stehenden Massen gesungen wurde, fängt der Zirkus an. Für die imposante Vorstellung sind die Kinder fast schon zu müde. Als wir später wieder mit dem Bus zurückfahren, fängt eines der Kinder an zu singen. Mit Inbrunst ertönt ein indianisches Lied und alle stimmen ein. Für meine Ohren haben diese tiefen und hellen intensiven Töne nichts Kindliches. Sie klingen wie das Stampfen der Büffel und die hellen Schreie der Adler, Erde und Himmel, Finsternis und Licht. Ich bin tief bewegt.

Am selben Abend werde ich in ein Powwow mitgenommen. Die Tür der turnhallengroßen Eingangshalle geht auf und ich erstarre: Ohrenbetäubendes Trommeln, gellender Gesang mit hellen und tiefen Tönen, eine Tanzgruppe von Männern in voller Montur, mit Adlerfedern und perlenbesetzter Lederkleidung geschmückt, aufwendig bestickte Mokassins und Tabakbeutel, Tomahawks und Speere in den Händen, tanzen im Rhythmus!

Hunderte von Menschen, viele davon traditionell gekleidet, bereiten sich auf ihren Auftritt vor. Stolze Krieger, wunderschön geschmückte Frauen und Kinder, alle tanzen nacheinander im Wettstreit und zum Schluss wird die beste Gruppe beschenkt, beklatscht und geehrt.

Eindrücke am Rande meiner Reise –Büffelerlebnisse

Jeff Iron Cloud nimmt mich eines Tages mit zu den Büffeln. Wir fahren kreuz und quer durch die Prärie. Ich halte die Luft an, wenn Jeff seitlich einen Hügel entlang fährt. Dann sehen wir in der Ferne die Herde. Als die Tiere uns bemerken, rennen sie davon und lassen nur eine Staubwolke zurück. Sie haben Junge und sind noch scheuer als sonst. Wir fahren weiter, als sie plötzlich von der Seite her angaloppiert kommen, direkt vor unseren Truck.

Da stehen sie mit ihrem dunklen dichten Fell, der gewaltige, nach unten gerichtete Kopf mit dem stämmigen Nacken und Brustkorb, mit grimmigem Blick aus den tiefsten Tiefen und kleinen nach oben gerichteten Hörnern – ihr ganzes Wesen zeigt die Erdverbundenheit. Auf dem Rückweg hören wir aus Jeffs Kasetten­recorder indianische Klänge mit Trommeln und gellendem Gesang. Wir fahren an einem Platz vorbei, dessen Bäume rundherum mit bunten Bändern geschmückt sind. Auf meine Frage antwortet Jeff: »Here is the place for the sundances.« Ich krame nach meinem Fotoapparat. »You can’t make a photo here«, sagt Jeff. Es ist ein heiliger Ort und beschämt lasse ich meinen Fotoapparat sinken.

Entwurzelung

Die alte Kultur ist in diesen Menschen noch vorhanden, sie lebt! Das ist nicht selbstverständlich. Denn bis 1976 bestand ein Verbot der amerikanischen Regierung gegen jede Ausübung indianischer religiöser Handlungen. Die Kinder wurden ihren Eltern entzogen. Sie wurden mit Gewalt in die Schulen gebracht, die ihnen den weißen christlichen Zivilisationsgeist eintrichtern sollten. Repressionen und Strafen waren den Indianern zuvor fremd. Mit militärischem Drill wurde gegen alles Traditionelle vorgegangen und die Erinnerung an Herkunft und Zugehörigkeit ausgemerzt. In den Staats- und Missionsschulen war es den Kindern nicht erlaubt, ihre Muttersprache zu sprechen, und den Eltern war es während der gesamten Schulzeit untersagt, ihre Kinder zu sehen, bis sie, ihren Familien und ihrer Kultur entfremdet, aus den Internatsschulen ent­lassen wurden. Die Zwangsintegration entwurzelte die Indianer, der Identitätsverlust trieb sie in Depression, Resignation und Alkoholismus.

In den Reservaten gibt es kaum ein Einkommen, keine Industrie, fast keine Landwirtschaft, es herrscht 85 Prozent Arbeitslosigkeit, die Hälfte der Indianer lebt unter der Armutsgrenze. Die Schulen weisen eine schwache Erfolgsrate auf, mehr als 60 Prozent der Schüler brechen sie vorzeitig ab. Fast die Hälfte der Menschen leidet an Diabetes, die Suizidrate ist extrem hoch, ebenso die Kindersterblichkeit. Die Männer werden durchschnittlich 48 Jahre, die Frauen 52 Jahre alt. Viele Eltern können ihre Kinder nicht selbst erziehen, oft springen die Großeltern ein. Im Pine Ridge Reservat ist Alkohol illegal, und Alkoholkonsum wird mit Gefängnis strikt geahndet. Sogar die Waldorflehrer, der Schulbusfahrer und die Mitarbeiter müssen sich unangekündigten Tests unterziehen.

Inzwischen hat sich ein gutes Team in der Einrichtung zusammengefunden, das ernsthaft und mit viel Einsatz arbeitet. Es gibt sogar Öffentlichkeitsarbeit, indem einige der Pädagogen regelmäßig im »Kili Radio« (eine indianische Radiostation im Reservat) über Waldorfpädagogik, Ernährung, die Wichtigkeit des Schlafes und des Rhythmus im Leben der Kinder erzählen. Die Eltern sind nicht in der Lage, Schulgeld zu bezahlen. Die Lakota-Waldorf-School finanziert sich ausschließlich aus Spenden. Isabel hält die Fäden fest in der Hand, damit die Lakota-Waldorfschule Monat für Monat über die Runden kommt. Ihre Lebensaufgabe ist es, für die Kinder im Reservat einen guten Ort zu schaffen, damit diese Kraft schöpfen können für ihren Weg in die Zukunft.

Selbst noch in den Anfängen ist diese Einrichtung ein pädagogischer Impulsgeber für andere Reservate in den USA und Kanada. Interessierte Eltern und Lehrer kommen von weit her, um die neue Pädagogik, die mit der Kultur der Indianer vereinbar ist, kennenzulernen. Und die Lakota-Waldorf-School hat Zukunftsvisionen. Auf dem Reißbrett existiert schon ein neues Schuldorf.

Zur Autorin: Kyra Karastogiou ist Klassenlehrerin an der Freien Waldorfschule Uhlandshöhe und besuchte das Pine Ridge Reservat während ihres Freijahres.

Link: www.lakotawaldorfschool.org