Warum wir Euch nicht vermissen werden

M. Hubert Schwizler

Liebe Schüler,

wie schön Ihr ausseht in Euren frisch gebügelten Hemden mit den umgebundenen Fliegen, in Euren Anzügen und Kleidern.

In wenigen Augenblicken werdet Ihr aus meinen Händen Euer Schulabschluss-Zeugnis erhalten. Angesichts Eures Erfolges ist mir dies eine besonders freudige Pflicht. Denn dieses zu erreichen, hatten einige von Euch selbst wohl nicht für möglich gehalten und andere kaum daran geglaubt.

Dieses Stück Papier, die Zahlen vor oder nach dem Komma und das Dienstsiegel des Staatlichen Schulamtes, die es trägt, verraten allerdings nichts über Eure Würde als Mensch, nichts darüber, ob ihr ein aufrechter und anständiger Mensch seid, dessen Anwesenheit von anderen als wohltuend und segensreich erlebt wird, oder ob ihr ein menschliches Ekel seid, das von anderen gemieden wird.

Von den sieben Milliarden anderen Menschen auf der Erde haben viel zu viele nicht das Privileg, eine Schule zu besuchen und an Bildung teilzuhaben. Auch unter ihnen sind viele anständige Menschen, Menschen, die wissen, was recht und unrecht ist, die aufrecht und rechtschaffen, mitfühlend und hilfsbereit durchs Leben gehen und dieses meistern. Nun zumindest schaden können Schule und Bildung in dieser Hinsicht nicht. Sie können dabei helfen, uns selbst in ein rechtes Verhältnis zu setzen zu unserer Umgebung, zu den Menschen, den Tieren und Pflanzen und zu den unbelebten, so genannten toten Dingen – aber auch zu uns selbst.

Je länger ich meinen Beruf ausübe und je älter ich werde, um so mehr scheint es mir im Leben letztlich doch nur darum zu gehen, dass wir uns in ein rechtes, in ein heilsames Verhältnis zu unserer Umgebung zu bringen vermögen.

Heute vor genau 75 Jahren wurde ein junger Mann mit dem Fallbeil hingerichtet, dessen einziges »Verbrechen« es war, in finsterster Zeit allein mit der Macht des Wortes zu kämpfen gegen Unmenschlichkeit und Niedertracht. Sein Name ist Alexander Schmorell. Mit Freunden zusammen hatte er als Student in München die Widerstandsgruppe »Die Weiße Rose« gegründet. Sie hatten Flugblätter entworfen und verteilt, und Parolen wie »Nieder mit Hitler!« und »Freiheit« mit Teerfarbe an die Hauswände gemalt, um den Menschen die Augen zu öffnen für das Unrecht, das aller Orten um sie herum geschah, um sie zu ermutigen, nicht mitzutun, sondern sich auf die richtige Seite zu stellen, auf die Seite der Menschlichkeit.

Alexander stammte aus Orenburg in Russland, er hatte einen deutschen Vater und eine russische Mutter. Als er kaum zwei Jahre alt war, starb die Mutter. Daraufhin übersiedelte er mit dem Vater und seinem russischen Kindermädchen nach München. Dort wuchs er in einer schönen Villa in einem vornehmen Vorort von München auf. Bereits in der Schule lernte er einen jener Freunde kennen, mit denen er Jahre später die »Weiße Rose« gründen und denen er dann in den Tod folgen sollte. Denn ihm gelang es als einzigem der Freunde, zunächst aus München zu fliehen. Doch die Flucht schlug fehl, er musste schon nach kurzer Zeit zurückkehren. Als ersieh in München während eines Bombenangriffs in einem Luftschutzraum aufhielt, wurde er erkannt und an die Gestapo verraten.

Auf Wunsch des Vaters, der selber Arzt war, hatte Alexander mit dem Medizinstudium begonnen, in dem er dann Hans Scholl und Willi Graf kennenlernte – die anderen Freunde in der »Weißen Rose«. Seine große Liebe und Leidenschaft aber waren die Musik und insbesondere die Kunst. So nahm er an Zeichenkursen teil und war Privatschüler eines Bildhauers. Und er liebte es, die Natur zu durchstreifen. Er liebte das Reiten. Er liebte das Skifahren und Bergsteigen. Er liebte es, gemeinsam mit den Freunden Bücher zu lesen.

Gerne verbrachte er seine Zeit mit Hilfsarbeitern auf Bauernhöfen, mit Roma-Zigeunern, Vagabunden und Landstreichern, mit den sogenannten Ausgestoßenen der Gesellschaft.

Seine Freunde beschrieben ihn als einen jungen Menschen voller Frohsinn und Humor und doch von tiefem Ernst.

Er wurde nur 25 Jahre alt, gerade mal so alt wie es unser lieber Kornelius hier oder mein Sohn Mathis heute sind.

Kurz vor seiner Hinrichtung besuchte ihn sein Anwalt im Gefängnis. Diesem sagte er, selbst wenn jetzt jemand, wie z.B. der Wärter an seiner Stelle sterben wolle, würde er es ablehnen.

»Denn ich bin überzeugt, dass mein Leben, so früh es auch erscheinen mag, in dieser Stunde beendet sein muss, da ich durch meine Tat meine Lebensaufgabe erfüllt habe. Ich wüsste nicht, was ich noch auf dieser Welt zu tun hätte, auch wenn man mich jetzt entlassen würde.«

Seinen Mut und seine Entschlossenheit sich gegen die Diktatur zur Wehr zu setzen, bezahlte er, wie auch die anderen Mitglieder der »Weißen Rose«, mit seinem Leben.

Solchen Mut und solche Entschlossenheit wünsche ich Euch auf Eurem Lebensweg, dann wenn es darum geht und darauf ankommt, dass man sich auf die richtige Seite schlägt. Es muss ja nicht so dramatisch verlaufen und tragisch enden wie bei Alexander Schmorell und den anderen Mitgliedern der »Weißen Rose«. Gelegenheiten aber, sich als ein anständiger und demütiger Mensch zu erweisen, gibt es auch für uns alle – jeden Tag. Diese zu ergreifen, dafür ist jeder selbst verantwortlich. Dafür seid Ihr nun selbst verantwortlich. Und darin bestehen die ungleich größeren und schwereren Prüfungen der Lebensschule. Dass Ihr Beistand erfahret in diesen Augenblicken, dafür bitte ich die Himmel.

Liebe Eltern, liebe Kollegen, liebe Mitschüler,

in einer der letzten Unterrichtsstunden vor den Prüfungen fragten mich die Schüler: »Wirst Du uns vermissen?«

Ich antwortete, wohl zu ihrer Enttäuschung und zu nicht geringem Entsetzen: »Nein, das werde ich nicht!«

Ich will Ihnen das erläutern, so wie ich dies auch gegenüber den Schülern tat. Wenn ich etwas vermisse, meinen Geldbeutel zum Beispiel oder einen Schlüssel, so wünschte ich doch, dass dieser Gegenstand zu mir zurückkehrte und bei mir verbliebe, ja dass er mich nie verlassen hätte. Wie könnte ich als Pädagoge und Erzieher, jetzt da das Leben diese jungen Menschen erwartet mit all ihren Vorlieben, Eigenarten und Begabungen, mir wünschen, dass sie doch bleiben mögen?

Nein! Ich möchte, dass sie gehen. Mutig und entschlossen in die Welt, ihrem Schicksal entgegen – und dass sie sich bewähren als anständige Menschen. Ihr Lebensweg und ihre Mitmenschen mögen davon einst Zeugnis ablegen.

Ich werde sie nicht vergessen. Ich werde an sie denken. Ich werde für sie bitten. Aber ich werde sie nicht vermissen!«

Zum Autor: M. Hubert Schwizler ist Gründungsmitglied, Lehrer und schulischer Leiter bei der Timeout Kinder-und Jugendhilfe gGmbH Breitnau; zuvor 20-jährige Tätigkeit als Klassen-, Religions- und Turnlehrer an der Freien Waldorfschule Freiburg. Die Ansprache wurde 13. Juli 2018 gehalten.

Kontakt: schule@timeout.eu