Wie man lebendig Denken lernt. Innovatives Studienkonzept an der Cusanus Hochschule

Nadja Görz, Lydia Fechner, Harald Schwaetzer

Studierende im Bachelor Philosophie durchlaufen in den ersten beiden Semestern drei Seminarblöcke, die eine Innovation in der Hochschuldidaktik darstellen. Die Trias »Denken, Wahrnehmen, ästhetischer Zustand« ist durch Friedrich Schillers Konzept des ästhetischen Menschen inspiriert. Schiller beschrieb neben dem in der Notwendigkeit logischer Bezüge sich bewegenden Denken (Erkenntnistheorie) und dem sinnlichen Wahrnehmen (Phänomenologie) noch einen dritten Zustand (Ästhetik), in dem er das eigentlich Menschliche zu finden glaubte. In waldorf- und reformpädagogische Ansätze ist Schillers anthropologisches Konzept eingeflossen.

Dieses Konzept wird in den Seminaren der Cusanus Hochschule erstmals in einem Philosophie-Studiengang angewandt und zu gleicher Zeit mit den Studierenden inhaltlich thematisiert und reflektiert.

Erkenntnistheorie – die grundlegende Verunsicherung

Erkenntnistheorie im ersten Semester – das ist keine geringe Herausforderung. Auf der einen Seite birgt die Beobachtung des eigenen Denkvorgangs ihre sprachlich-systematischen Anforderungen, auf der anderen Seite aber führt Erkenntnistheorie, ohne dass dieses demjenigen, der sich ihr widmet, von vornherein immer schon klar wäre, ins Innere der eigenen Existenz. Sie kann die praktischste aller Disziplinen der Philosophie werden. Das ist insbesondere der Fall, wenn man zur Grundlage der Erkenntnistheorie einen Autor wie Johannes Volkelt nimmt. Dessen Grundmethode ist eine sorgsame, genaue Beobachtung der eigenen Bewusstseinszustände. Seinen methodischen Zugriff fasst er so zusammen: »Mein Gewisssein hat seiner selbst inne zu werden und sich selbst zu besinnen. Ich kann auch sagen: das Erkenntnisproblem muss von dem Erleben des Erkennens aus in Angriff genommen werden. Ich habe meine Aufmerksamkeit daraufhin einzustellen: was erlebe ich, wenn ich gewisse Vorstellungszusammenhänge mit dem Anspruch vollziehe, mit ihnen eine Erkenntnis zustande gebracht zu haben?« Auf dieser Grundlage wird eine Erkenntnistheorie, die das Trennen und Verbinden, das Werden und Wachsen von Wahrnehmung und Begriff, die Urteils- und Vorstellungsbildung zum Gegenstand hat, nicht nur zu einem die Erkenntnis klärenden Prozess, sondern unerwartet, aber unübersehbar zu einer Konfrontation mit der Fähigkeit zur eigenen Beobachtung, zur Auseinandersetzung mit den Fertigkeiten der Urteils­bildung und zum Gewahrwerden der eigenen Ich-Tätigkeit, der tätigen Grundlage des reflexiven Bewusstseins.

Die wunderbare Welt der Phänomene

Konzentriert sich die Arbeit im Seminar »Erkenntnistheorie« vor allem auf das innere Wahrnehmen von Erkenntnistätigkeit, also auf das Zusammenspiel von Begriff und Ich, wendet sich das ebenfalls im ersten Semester angebotene Modul zur »Phänomenologie« der Wahrnehmung zu.

Phänomenologie erkundet in vielen praktischen Übungen und an Texten wie »Der Versuch als Vermittler zwischen Subjekt und Objekt« von Goethe oder auch an klassischen Texten wie Platons Höhlengleichnis den Zusammenhang von Wahrnehmen und Erkennen. Studierende lernen unterschiedliche philosophische Perspektiven auf diese Frage kennen, aber auch literarische oder kunsttheoretische Texte, die das weite Feld des Wahrnehmens erkunden. Cézannes Theorie des Sehens, Adalbert Stifters autobiografische Skizze »Mein Leben« oder auch die mehrstündige Betrachtung von Landschaftsmalerei führen in einen Erfahrungsraum, in dem die begriffliche Vorarbeit der Erkenntnistheorie einen Halt in der Sinnes-Wirklichkeit findet. Das Ich erobert sich seinen Grund in der Welt.

Wahrnehmen – inneres und äußeres – wird Schritt für Schritt zur aktiven Erfahrung des eigenen Bewusstseins. Die heutige Problematik eines wuchernden, aber unbewusst wirkenden Vorstellungslebens, das durch verstärkten Medienkonsum und eine immer schwächere Verankerung in der Sinneswelt im Nichts zu schweben droht, wird an eine Grenze geführt. Die Studierenden wachen durch das methodische Philosophieren an der realen Grenze von Bewusstsein und Sinneswelt auf. Es wird ahnbar, dass an dieser Grenze die Spaltung von Subjekt und Objekt, von Innen und Außen, die unser philosophisches und alltägliches Denken seit der Neuzeit prägt, keine absolute ist.

Wie funktioniert Kunst?

Das Modul Kunst als Selbst- und Wirklichkeitsgestaltung öffnet das in der Phänomenologie geschulte Wahrnehmungserleben hin zum Ästhetischen als einem Raum, in dem der Mensch als gestalterisches Subjekt seiner Welt in den Mittelpunkt gestellt wird. In einer intensiv bei Einzelwerken verweilenden Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Kunstgattungen verschiedener Epochen lernen die Studierenden in ihrer eigenen Rezeption von Kunstwerken die schöpferische Tätigkeit des Ich als bewusste Hervorbringung neuer Formen von Wirklichkeit kennen.

In der Kunst entsteht im Schillerschen Sinn ein Freiraum, in dem aktiv die gegensätzlichen Bedingtheiten von Form und Stoff als Gestaltungsmöglichkeit entdeckt und aufeinander bezogen werden können. Die Studierenden erobern sich so ein Stück Freiheit in ihrem eigenen Bewusstsein, das gleichzeitig auf kreative Tätigkeit in der Sinneswelt vorbereitet. Zudem übt das Kunst-Modul vor dem Hintergrund bedeutender Positionen der Ästhetik dieses vertiefte Kunstverständnis und bringt die Seminaristen so mit den Voraussetzungen der eigenen Freiheit und Kreativität in Berührung: von Plotin über Kant bis zur Gegenwart.

Erwachen am Abgrund

Die Cusanus Hochschule hat im Wintersemester diese Seminartrias nun zum zweiten Mal begonnen. Die Rückmeldung der Studierenden ist bemerkenswert. Sie erleben zunächst eine Krisis, die durch die Rückführung aller bisher als identitätsbildend erlebten Vorstellungen über sich und die Welt auf den realitätsgründenden Akt des Denkens ausgelöst wird. Plötzlich tut sich der Abgrund zwischen Meinen und Denken auf, zwischen Vorstellen und wirklichem, aber begriffslos Wahrgenommenem. Wann habe ich jemals wirklich gedacht, wann echt wahrgenommen? Durch gemeinsame Übungen wird versucht, das schmerzliche Erlebnis durch positive Erkenntniserfahrungen, die nun von viel feinerer und flüchtigerer Art sind, aufzuwerten. Trotzdem bleibt das Krisenhafte, das die Dozentinnen und Dozenten durch Einzelgespräche und den Hinweis auf die Notwendigkeit eines solchen Erwachens am Abgrund aufzufangen suchen, bestehen. Außerdem wird dieser philosophische Weg ergänzt durch eine gründliche Einführung in die Geschichte der Philosophie, mit besonderer Berücksichtigung geistiger Entwicklungswege. Die Studierenden erkennen so allmählich, dass sie in einer Tradition existenzieller Fragen stehen. An den großen Universitäten wird die Philosophie häufig als intellektuelle Disziplin erlebt, die eine raffinierte Synthese aus Logik und Lehrinhalten darstellt. Das Institut für Philosophie an der Cusanus Hochschule möchte einen anderen Akzent setzen, der die Philosophie wieder als Erlernen eines lebendigen Denkens begreift, das gestaltend Selbst und Welt zu verändern vermag.

Zu den Autoren: Dr. Lydia Fechner ist verantwortlich für die Studiengangskoordination im Institut für Philosophie; Prof. Dr. Harald Schwaetzer lehrt Philosophie (beide Cusanus Hochschule). Nadja Görz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität des Saarlandes und Lehrbeauftragte an der Cusanus Hochschule.

Literatur: J. Volkelt: Gewissheit und Wahrheit, München 1930