Wirklichkeitsverschiebungen

Valentin Hacken

Für Michael Zech, einen der Initiatoren, ist es das Ziel des Kasseler Jugendsymposions, eine Brücke von der Schule ins Leben zu schaffen. Es geht weder um die Begründung einer Elite, noch um Belehrung oder Vereinnahmung. Mit dem Symposion soll ein Raum entstehen, in dem engagierte Schüler in einen Dialog mit Vertretern aus verschiedenen Lebensfeldern wie Wirtschaft, Wissenschaft und Politik treten. Valentin Hacken, Schüler an der Waldorfschule Offenburg, berichtet über das Symposion, das vom 11.–13. Dezember 2009 in Kassel mit 250 Schülern aus 78 Schulen stattgefunden hat.

Das Gelände um Lehrerseminar und Waldorfschule summt vor lauter anreisenden Schülern. In der Schule laufen die Kurse, im Seminar die Gespräche und ein paar Straßenbahn-Minuten entfernt im Haus der Kirche die Vorträge. Schon die räumliche Anordnung zeigt die Geste der gesamten Veranstaltung: von der Schule raus ins Leben, in den Dialog.

Im lichtdurchfluteten Haus der Kirche sprechen Wilfried Sommer (Lehrerseminar Kassel/Alanus-Hochschule Alfer), Hans-Peter Dürr (alternativer Nobelpreisträger), Götz Werner (dm-Markt), Hendrik Emrich (Neurologe), Bernd Ruf (Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners), Marcelo da Veiga (Alanus Hochschule). Physik, Wirtschaft, Neurobiologie, Notfallpädagogik und Philosophie beleuchten die »Wirklichkeit«. Die guten Momente eines jeden Vortrags öffnen Türen. Gesten knüpfen Netze, die die Welt herein­holen, Verstehen wird möglich. Nach den Vorträgen bilden sich Trauben um die Redner – was im Plenum nicht mehr gefragt werden konnte, wird nachgeholt: »Führt nicht die Quantenphysik ihre Zeitbeschreibung ad absurdum?«, »Kann man traumatisierten Menschen im Alltag helfen?«, »Langweilen Sie sich als Nobelpreisträger nicht bei solchen Veranstaltungen?« Danach die Auflösung: jeder nimmt seine Gedanken wieder mit in die Straßenbahn.

Schüler verteilen sich über die Schule und die gelbe Villa. Wirklichkeitsverständnis der Amazonasindianer, Architektur, Quantenphysik, vom Mut, die Seele als Instrument zu nutzen – die Kurse und Trainingsangebote, egal zu welchem Thema, stoßen immer wieder auf Wirklichkeitsfragen. Geht man in der Diskussion von der gleichen Wirklichkeit aus – hat man eine gemeinsame?

Ein hoher Anspruch liegt nicht nur in der Idee – auch in der Form zieht er sich durch. Jeder Referent hat Unterstützung durch einen Schüler der Waldorfschule. Wo was zu finden ist, wer noch ein Verlängerungskabel hat – hier stören diese Fragen nicht, denn sie können schnell und hilfreich beantwortet werden. Das Programm funktioniert ohne jedes Holpern. Mit der Anmeldung gibt es einen Nahverkehrsausweis für die Stadt und die Übernachtung haben die Teilnehmer selbst gebucht. Spät nach dem Essen finden Gespräche statt. Wer mag, geht hin – in die philosophische Runde oder in die naturwissenschaftliche. Oder man begegnet sich einfach und tauscht sich so aus. Eine Straßenbahn-Viertelstunde entfernt lockt Kassel und der Lockruf wird gerne erhört. Es sind Tage voller Wirklichkeitsverschiebungen. Gespräch mit einem Nobelpreisträger. Weihnachtsmarkt und Glühwein. Lehrerseminar. Schule. Kurs. Austausch. An. Aus. Flackern. Subjektive Wahrnehmung. Objektive Wahrnehmung.

 »Es ist für mich eine Ehre, hier zu sein!« Die geehrten Schüler sind aus ganz Deutschland angereist, sie sind die Träger des Vertrauens ihrer Lehrer, die sie für das Symposion in Kassel vorgeschlagen haben. Große Würfe stecken in den Debatten. Präzision und Definition werden gefordert, das Phänomen der Zeit nachts um kurz vor Elf als schwammig gegeißelt und die implizierte Aussage der Kernthese missverstanden. Doch die Aufregung hat Gründe. Denn das Besondere sind die Begegnungen in Kassel. Es begegnen sich Menschen, die in ihren Klassenzimmern nicht nur unter dem Linoleum den Strand vermuten, sondern die Wände als Pappkarton denken, den man jederzeit einklappen kann, um das Leben zu sehen. Sie lassen sich berühren, von dem, was gesprochen wird. Die Welt kann jede Stunde neu gedacht werden, nach jedem neuen Gedankenanstoß. Der Pappkarton hat sowieso keinen Halt versprochen, jetzt geht es für manche ganz ohne.

Im letzten Plenum wird zurecht gelobt, Qualität und Niveau der Vorträge, Vielfalt und Art der Seminare und Trainingseinheiten. Und eine Frage stellt sich leise, bis sie von den Veranstaltern beantwortet wird: Wie geht es weiter?

Die Zukunftswerkstatt wird es wieder geben, Themen wie  »Geld« (3.-6. Juni 2010) und »global« sind schon gesetzt. Die persönlich Eingeladenen bleiben dies auch – bis ins Studium. Nun ist es an ihnen, in die Öffentlichkeit zu gehen. Referate, Berichte, Aktionen, alles ist erlaubt. Ihre Kreativität erhält ihren Platz in der Zukunftswerkstatt.

Die letzten Fragen bleiben offen, an das Symposion, an die Welt. Wer ist eingeladen? Wer nicht? Gerechtigkeitsfragen. Die Wirklichkeit hat nach diesen Tagen mehr Facetten, der Besucher mehr Fragen an sie und er sieht nun öfter das  Flackern, wenn sich die Wirklichkeit kurz verschiebt.