Zum 100. Geburtstag der Eurythmie

Michael Leber, Matthias Jeuken

Rudolf Steiners Intentionen waren andere: »Könnten Sie das tanzen?«, fragte er 1908 die junge Malerin Margarita Woloschin im Anschluss an einen Vortrag zum Prolog des Johannes-Evangeliums, wo es heißt: »Am Anfang war das Wort …«. Steiner verband seinen Kunstimpuls mit der spirituellen Kraft des Wortes und der differenzierten leiblichen, seelischen und geistigen Natur des Menschen. In ihren Lebenserinnerungen schreibt Margarita Woloschin, dass Steiner mit dieser Frage auf die Eurythmie gezielt hat – und bedauert, seine Absicht nicht erkannt zu haben.

Erst 1911 ergaben sich neue Gelegenheiten: In einem Gespräch, das Clara Smits mit Steiner führte, sprachen beide über Lory, die 18jährige Tochter von Clara Smits. Sie hegte den Wunsch, eine Ausbildung in Gymnastik oder lieber noch in Tanzkunst zu beginnen. Die Mutter schien nicht sehr begeistert von dieser Idee. Sie hatte aber die Frage, ob nicht über bestimmte Bewegungen Heilkräfte im Menschen aktiviert werden könnten. Daran konnte Steiner jetzt anknüpfen. Freudig erklärte er sich bereit, Anweisungen zur Ausarbeitung zu geben. Die ersten praktischen Übungen für ihre Tochter gab er Frau Smits gleich mit.

Sehr zum Bedauern von Lory Smits, die immer wieder nachfragte, fand Steiner erst im September 1912 Zeit für die ersten Unterweisungen. Schnell wurde deutlich, dass die neue Kunst nicht nur eine Tanzkunst sein würde: Bereits in der ersten Eurythmiestunde entwarf Steiner eine Choreographie, die Kindern helfen sollte, denen leicht schwindelig wird. Schon bei ihrer Entstehung wirkten in der Eurythmie bühnenkünstlerische, pädagogische und therapeutische Aspekte zusammen. Am letzten Tag des Kurses wurde überlegt, dass die Sache auch einen Namen haben müsse. Der Überlieferung nach hat Marie von Sievers, Steiners spätere Frau, daraufhin spontan »Eurythmie« ausgerufen (griech.: »eu« schön, anmutig; »Rhythmos« Bewegung).

Während Lory Smits selbst noch die neuen Bewegungen übte, begann sie eine Gruppe von Kindern eurythmisch zu unterrichten. Neue Mitstreiterinnen stoßen hinzu: Bei der ersten Aufführung, die im August 1913 in München stattfand, präsentierten bereits sechs Eurythmistinnen die junge Kunst. In der Folge entwickelte sich eine rege Kurs- und Aufführungstätigkeit. Die jungen Eurythmistinnen übten selbst noch die neuen Elemente – und unterrichteten zugleich Kinder und Erwachsene. Erst 1922 kam der erste Mann dazu. Steiner begleitete die Entwicklung intensiv. Wann immer möglich, sprach er einleitende Worte vor den Aufführungen und machte bei seinen Probenbesuchen weitere Angaben.

1919 war ein besonderes Jahr für die Eurythmie. Nach fast sieben Jahren intensiver Arbeit und vielen internen Darbietungen trat die Eurythmie mit Aufführungen in Theatern in Zürich und Winterthur an die Öffentlichkeit. Viele öffentliche Aufführungen folgten in kurzer Zeit. Überwiegend wurde die neue Kunstform positiv aufgenommen, aber es meldeten sich natürlich auch kritische oder ablehnende Stimmen. Noch zu Steiners Lebzeiten wurden in Deutschland und der Schweiz europaweit Tourneen veranstaltet, die oft große Staatstheater und Opernhäuser füllten.

1919, bei der Gründung der ersten Waldorfschule auf der Uhlandshöhe, wurde die Eurythmie reguläres Schulfach.

Die Eurythmie in der Waldorfschule

Die Eurythmie wird wie selbstverständlich in den Fächerkanon integriert. Steiner erklärte die Eurythmie ausdrücklich zum Pflichtfach, eine Ehre, die nur der Eurythmie zukam. Einer der ersten Eurythmistinnen gab er den besonderen Rat: »Wenn sie einen Schüler vor sich haben, der meinetwillen sechs Fehler macht, tun sie mir den Gefallen und sagen ihm erst den siebenten.« Probleme gab es natürlich auch. Dabei ging Steiner mit der Eurythmie möglichst flexibel um: Bei einem Jungen, der wohl gar nicht im Eurythmieunterricht zu bändigen war, riet er, ihn während der Eurythmiestunden zeichnerisch mitmachen zu lassen, was die anderen Schüler eurythmisch erarbeiteten.

Bis zu seinem Tod 1925 begleitete Steiner die Waldorfschule und den Eurythmieunterricht intensiv und war mit der Entwicklung der Eurythmie zufrieden. In Vorträgen zur Waldorfpädagogik, die er an vielen Orten hielt, äußerte er sich wiederholt positiv über den Schulversuch und führte aus, wie selbstverständlich, aber auch förderlich das ungewohnte Fach im Lehrplan wirke. Manchmal begleiteten Schüler ihn auf Reisen und zeigten, was sie im Eurythmieunterricht erarbeitet hatten.

Warum ist Eurythmieunterricht unverzichtbar?

Dass Waldorfschüler ihren Namen tanzen können, kann kein Selbstzweck sein. In der Eurythmie spricht oder singt der Mensch nicht mit seiner Stimme, sondern macht seine Gestalt und seine Bewegungen zum Instrument. Der Inhalt, aber viel mehr noch die seelischen Stimmungen und die inneren Bilder werden in bewusst geführten Formen und Gebärden künstlerisch gestaltet. Im Kindergarten und der ersten Klasse beginnt das mit kleinen Bewegungsgeschichten. Die Kinder schlüpfen in die Charaktere der einzelnen Rollen, bewegen sich als Prinzessin, als Bär oder als Pferdchen. Durch vielerlei rhythmische und geometrische Übungen in Gebärden und Raumformen erarbeiten sich die Schüler der folgenden Klassen Bewegungs- und Ausdrucksfähigkeiten. An den Stücken, den Übungen, aber auch an den Mitschülern und den eigenen Bewegungen schulen sie ihre Wahrnehmungsfähigkeit. Die Eurythmie trägt zu musikalischer und sprachlicher, aber auch zu sozialer Sensibilität und zum Selbstbewusstsein bei. Dabei stellt sie ein umfassendes Bewegungsrepertoire zur Verfügung, das wie die Laute in der Sprache zu differenziertem kreativem Ausdruck verwandt werden kann. In den Oberstufenklassen sind die Schüler in der Lage, eigenständig im Prozess von der Stückauswahl bis zur Eurythmieaufführung mitzuarbeiten.

Vor Schuleltern der ersten Waldorfschulen erläuterte Steiner einmal die Wirkungen des Eurythmieunterrichtes: »So wird Eurythmie auf die Erkenntnisfähigkeit und Willens­fähigkeit – in der Richtung nach Beweglichkeit, Interessefähigkeit und Wahrhaftigkeit – zurückwirken und auf das Gemüt, das zwischen der Erkenntnisfähigkeit und Willensfähigkeit liegt. Es kommt so unendlich viel darauf an, dass der Mensch sich eurythmisierend als Ganzes ergreift, dass er nicht den Leib auf der einen Seite und die Seele, den Geist, auf der anderen Seite hat.« Das sind bis heute hohe Ideale für den Eurythmieunterricht: den Kindern dabei zu helfen, sich in sich selbst wohlzufühlen, ihren Leib zu einem passenden und angenehmen »Haus« für ihre Seele zu machen. Dazu gehört auch die Verbindung von Erkenntnissen und Handlungen: Wie oft fällt es Schülern, aber auch uns Erwachsenen schwer, zu tun, was wir als richtig erkannt haben. Initiativ zu sein für unsere eigenen Impulse, aber auch für die Mitmenschen und die Umwelt. In der künstlerischen Auseinandersetzung mit einem Musikstück oder einem Gedicht, im Erringen der eigenen Ausdrucksmöglichkeiten und im Einsatz der Kreativität im Eurythmieunterricht können diese Qualitäten geübt werden. Wie viel Übung erfordert es, wie viele Wiederholungen sind nötig, wie viele Absprachen muss man treffen (und einhalten), bis ein Stück auf die Bühne kann. Das ist, eingebunden in die künstlerische Tätigkeit, eine Schulung der Willens- und Initiativkraft.

Eurythmie in 100 Jahren …

Ist der Eurythmieunterricht noch sinnvoll und zeitgemäß? Eine Vielzahl von Aufführungen, Vorträgen, Veröffentlichungen, aber auch Flashmobs und Videos im Jubiläumsjahr dokumentieren, wie vielfältig und selbstbewusst die Eurythmie erlebt und präsentiert wird.

Für die Zukunft zeichnen sich zwei Tendenzen ab. Für das Weiterentwickeln der Eurythmie wird es wichtig sein, sie verstehend und übend zu vertiefen – und sie zugleich zu individualisieren. Eine Reihe aktueller Forschungsprojekte und Veröffentlichungen über die Eurythmie helfen aus den Kommunikationsschwierigkeiten, in der sich viele Eurythmisten befinden. Mit staatlich anerkannten, akkreditierten Studiengängen wird die Eurythmie weitere gesellschaftliche Anerkennung erfahren. Doch sie ist in ihrem Bestand gefährdet, wenn sie nicht mehr als Bühnenkunst wahrgenommen werden kann. Denn die eigentliche Vertiefung liegt im tätigen Üben, im gegenseitigen Präsentieren und Wahrnehmen des Erarbeiteten und im gemeinsamen Ringen um Verständnis. Dafür braucht sie aber ein Publikum und Aufführungsorte – und hier kommt den Waldorfschulen eine besondere Verantwortung zu. Wie vielgestaltig und vital die Eurythmie ist, haben in den letzten Monaten eine Reihe von Initiativen vor allem von Schülern und jungen Eurythmisten gezeigt: Junge Menschen versuchten, ihren Zugang zur Eurythmie zu zeigen. Länder- und Kulturgrenzen wurden dabei mit überwunden.

Die brasilianische Schülergruppe »terranova euritmia« hat 2012 bereits ihre dritte internationale Tournee gegeben.

In Witten fand das neunte »Forum Eurythmie« statt: Über 500 Mitwirkende aus zwölf Ländern, Schülergruppen, Studenten, Eurythmieensemble und Solisten zeigten sich gegenseitig vier Tage lang, was sie erarbeitet hatten. Bei »what moves you?« haben Schüler Beethovens fünfte Symphonie aufgeführt: eurythmisch! Sie haben sich einem Casting gestellt und den Sommer über zu Proben in Berlin getroffen. Die Jugendlichen haben mit sieben erfahrenen Eurythmiechoreographen gearbeitet. Zum Abschluss präsentierten sie ihre Aufführung mit Orchesterbegleitung in der Freien Waldorfschule Kreuzberg.

Deutlich wird bei all diesen Initiativen: Wie vor 100 Jahren fragen junge Menschen nach den Impulsen der Eurythmie. Die Eurythmie ist 100 Jahre jung!

Zu den Autoren: Michael Leber ist Leiter des Eurythmeums in Stuttgart; Matthias Jeuken ist Dozent für Eurythmie an der Freien Hochschule Stuttgart

Weiterführende Literatur: Sylvia Bardt: Eurythmie als menschenbildende Kraft, Stuttgart 2010; Magdalene Siegloch: Lory Maier-Smits – Die erste Eurythmistin und die Anfänge der Eurythmie, Dornach 2011;  Rudolf Steiner: Anthroposophische Menschenkunde und Pädagogik, GA 304a, Dornach 1923

Informationen zu den Initiativen:

www.forumeurythmie.de | www.euritmia.br | www.whatmovesyou.de