Peripherie

Forschung aus Leidenschaft

Natascha Hövener
Foto: © Charlotte Fischer

Es ist an der Zeit, einige Dinge geradezurücken.

Erstens: Anthroposophische Medizin basiert auf der modernen naturwissenschaftlichen (konventionellen) Medizin, wie sie an unseren Universitäten gelehrt wird. Sie trennt nicht zwischen konventionellen und komplementärmedizinischen Behandlungsformen, sondern verbindet sie zu einem ganzheitlichen medizinischen Konzept. Dementsprechend nutzt die Anthroposophische Medizin auch alle wissenschaftlichen Ergebnisse, die heute für die gesamte Medizin vorliegen.

Zweitens: Auch bei den ergänzenden Verfahren, die anthroposophische Wurzeln haben (zum Beispiel spezifische Arzneimittel, Bewegungs- und Kunsttherapien sowie pflegerische Anwendungen) versteht sich die Anthroposophische Medizin explizit als forschende Therapierichtung. Geforscht wird an Universitäten, Forschungsinstituten, in Krankenhäusern und Praxen. Gerade in den letzten Jahren hat sich diese Arbeit sehr dynamisch entwickelt, so dass mittlerweile verschiedene Studien mit guten Ergebnissen vorliegen. Und das, obwohl die Anthroposophische Medizin keine großen Geldgeber hat und keinen pharmazeutischen Massenmarkt bedient. Qualitativ hochwertige Forschung ist extrem aufwändig und damit teuer. Für Firmen lohnt sich das in der Regel nur, wenn die zu erforschenden Arzneimittel neu und damit patentgeschützt sind. Sämtliche Anthroposophika – ähnlich wie viele pflanzliche Mittel – sind aber traditionelle Arzneimittel ohne Patentschutz. Die Finanzierung der Arzneimittelforschung ist daher wirtschaftlich umso schwieriger.

Was wurde bisher erreicht?

Trotz der Herausforderungen ist die Forschungsszene in der Anthroposophischen Medizin sehr lebendig. Am bekanntesten sind die Studien zur Wirksamkeit der Misteltherapie bei Krebs. Heute liegen hochwertige Studien zur Verbesserung der Lebensqualität vor: Schlaf, Appetit, Wärmehaushalt bessern sich, Erschöpfung und Depressionen treten seltener auf. Die Mistel­therapie ist mit rund 2.000 wissenschaftlichen Artikeln und über 150 Studien zur klinischen Anwendung intensiv untersucht und vielfach eingesetzt. Weitere Infos unter www.mistel-therapie.de.

Auch für die anthroposophisch-integrative Behandlung akuter Atemwegs- und Ohrinfektionen oder die Therapie chronischer Erkrankungen, wie z.B. Rheuma, Leber- oder Darmerkrankungen, liegen heute gute Ergebnisse vor. Viele weitere Vorhaben sind in Planung. Die bisherigen Daten belegen nicht nur die Sicherheit und gute Verträglichkeit Anthroposophischer Medikamente, sondern auch ihre Wirksamkeit.

Medizin als Handlungswissenschaft

Alles in bester Ordnung also? Wie man’s nimmt. Denn trotz guter Arbeit sind noch viele Fragen offen, wie so oft in Wissenschaft und Forschung. Dass es in Deutschland fast keine staatliche (und damit unabhängige) Forschungsförderung für Naturheilkunde & Co. gibt, macht die Sache nicht einfacher. Und auch in der wissenschaftstheoretischen Debatte gibt es noch viel zu tun. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich in der Medizin ein extremer Fokus auf Studien des so genannten »Goldstandards« (RCT = randomisiert-kontrollierte Doppel-Blind-Studien) durchgesetzt, so dass es inzwischen auch einige derartige Studien zu anthroposophischen Therapieverfahren gibt. Allerdings sind RCT-Studien sehr aufwändige und hoch artifizielle Untersuchungen unter experimentellen Bedingungen, die sich längst nicht für alle medizinischen Verfahren oder Fragestellungen eignen.

Deshalb macht sich die Anthroposophische Medizin für mehr Vielfalt in der Methodik stark. Denn ärztliches oder therapeutisches Tun basiert nie nur auf statistischen Daten, sondern immer auch auf klinischer Erfahrung. Ganz praktisch formuliert: Jede Ärztin und jeder Arzt weiß, dass sich ihr Handeln nicht allein in der Interpretation von Messwerten, Zahlen, Laborergebnissen erschöpft. Die tatsächliche ärztliche Kunst ist viel mehr: den Patient:innen als Menschen zu begegnen, zuzuhören, sich einzufühlen, aufzuklären, zu motivieren, Mut zu machen etc. All diese Aspekte haben Einfluss auf die Genesung und machen die Medizin damit zu einer Handlungswissenschaft.

Perspektive erweitern

Es lohnt sich also, für einen erweiterten Forschungsbegriff zu streiten, der neben den Studienergebnissen der höchsten Evidenzklasse auch die ärztliche Erfahrung und Expertise sowie die Präferenzen der Patient:innen berücksichtigt – genau so, wie es David Sackett, der Erfinder der modernen evidenzbasierten Medizin, ursprünglich angelegt hatte. Sackett selbst hat vor einer standardisierten Anwendung von Studienwissen in der Medizin gewarnt. Die Medizin werde dadurch am Ende unmenschlich. Seinem ursprünglichen und weiter gefassten Konzept fühlt sich die Anthroposophische Medizin verpflichtet. Das bedeutet, dass Anthroposophische Wissenschaftler:innen seit vielen Jahren integrative Therapien erforschen und Studien veröffentlichen, aber der ärztlichen Expertise und den kulturellen und bio­graphischen Lebenszusammenhängen von Patient:innen eine ebenso große Bedeutung beimessen.

Um die vorhandenen Ressourcen optimal auszuschöpfen, wurde 2019 eine Forschungsstrategie zur Anthroposophischen Medizin entwickelt: »Gerade bei einem so komplexen Ansatz wie der Anthroposophischen Medizin, die mit vielen verschiedenen Therapieverfahren und Arzneimitteln arbeitet, ist es sinnvoll, gemeinsam festzulegen, welche Schwerpunkte wir setzen können und welchen Methoden-Mix wir dafür brauchen«, berichtet Dr. med. Gunver Kienle, Leiterin des Instituts für angewandte Erkenntnistheorie und medizinische Methodologie (IFAEMM), die diese Gesamtstrategie zusammen mit zahlreichen anderen Forscher:innen erarbeitet hat.

Mehr Versorgungsforschung, bitte!

Ein weiterer Schwerpunkt der Anthropo­sophischen Medizin liegt auf der Stärkung der so genannten Versorgungsforschung (Real World-Data), also der Erforschung der realen und alltäglichen Versorgungswirklichkeit in Klinik und Praxis. In der Versorgungsforschung liegt ein riesiges, bisher nur anfänglich erschlossenes Innovationspotential für die gesamte medizinische Forschung – nicht als Alternative zur bisherigen Forschung, sondern als Ergänzung, die auf Ebene der praktischen Versorgung ansetzt. Hier kann die Anthroposophische Medizin aufgrund ihrer Erfahrung mit komplexen Therapiesettings wichtige Impulse geben. Gemeinsam mit der konventionellen Medizin können so ergänzende Nachweisverfahren entwickelt werden, um dem kranken Menschen noch auf andere Weise gerecht zu werden.

Quelle: Einen Überblick über die wichtigsten Studien zur Anthroposophischen Medizin gibt es unter: GS. Kienle, A. Glockmann, R. Grugel, HJ. Hamre, H. Kiene: Klinische Forschung zur Anthroposophischen Medizin – Update eines »Health Technology Assessment«-Berichts und Status Quo. Forsch Komplementmed 2011, 18:269–82

Kommentare

Stefan Oertel,

Eine Geraderückung? Wie man’s nimmt. Ich empfinde die Darstellung als Schiefrückung, eine Schiefrückung allerdings, deren Stichworte längst in der anthroposophischen Welt etabliert sind. Wahrscheinlich für Krankenkassen und kritisch äugende Spiegel-Redakteure hat man sich harmlose Termini gebastelt, man spricht von “ergänzenden Verfahren” zur Schulmedizin bzw. deren anthroposophischer “Erweiterung”. Ich finde das schade, weil sich hinter der Emphase, mit der solche Ausdrücke gebraucht werden, wahrscheinlich viel Opportunismus verbirgt.

Man muss heute natürlich Naturwissenschaft kennen, das gehört in der Medizin und auch andernorts dazu. Aber wenn man dann von bloßer “Ergänzung” spricht, blendet man aus, wie sehr Steiner die gesamte Naturwissenschaft von Beobachtungsfehlern, Denkfehlern und irreleitenden Modellvorstellungen durchsetzt sah. Allein der Gedanke des Ätherleibes passt überhaupt nicht zu gängigen reduktionistischen Denkweisen. Und faktisch muss man ja jeden einzelnen Prozess in einem lebendigen Wesen anders denken, wenn man ihn als Ausdruck eines Ätherleibs anstatt eines reduktionistischen Schemas denkt. Weil nun in der Anthroposophie alles anders ist, ist bei Steiner ja auch das Herz keine Pumpe, es gibt keine motorischen Nerven und der Energieerhaltungssatz gilt im menschlichen Körper auch nicht. Nur eine “Erweiterung” bestehender Vorstellungen also? Sie wissen, man könnte hunderte ähnliche Beispiele nennen. Nein, Anthroposophie ist keine harmlose Erweiterung des gängigen materialistischen Gedankenguts. Sie ist viel umwälzender.

Und dann wird im Artikel für einen “erweiterten Forschungsbegriff” plädiert – und irgendwas geschrieben, aber das eigentliche Anthroposophische fehlt. Dass man nämlich, so Steiners Behauptung, mittels exakter Hellsichtigkeit, die seelische und geistige Seite der Welt erforschen könne. Und die Resultate der Erforschung dieser geistigen Welt so präzise und klar seien, wie die Erforschung der physischen Welt, in einem gewissen Sinne noch klarer. Kann man bestreiten, ist aber die Grundlage sämtlicher Steinerscher Darstellungen, auch in der Medizin! Das wäre dann wirklich der “anthroposophisch erweiterte Forschungsbegriff”. Nur: wenn man sowas in der akademischen Forschung verträte, flöge man da in hohem Bogen raus. Offenbar möchten das viele Anthroposophen vermeiden und denken sich daher selbst die Sache harmlos. Ich muss leider sagen, dass ich in diesen verharmlosenden Darstellungen immer die Anthroposophie nicht mehr recht wiederfinde. Es finden sich ein paar nette Phrasen, sicher auch ernst gemeinte Ansätze und Ideen – aber wo ist die Anthroposophie?