Waldorf-Zauberkiste

Henning Kullak-Ublick

Ihr Mann kommt berufsbedingt oft spät oder gar nicht nach Hause, aber Familie R. ist privilegiert: Die Kinder haben ihre Mama um sich, besuchen den Waldorfkindergarten, der Mann verdient genug für beide, echte Existenzsorgen gibt es nicht. Aus dem Kindergarten kennt Maria Anne P., die das ältere ihrer beiden Kinder ebenfalls im Sommer einschulen wird. Sie ist berufstätig, alleinerziehend und weiß trotz ihrer Sparsamkeit oft nicht, wie sie es über den Monat schaffen soll. Beide Mütter haben ein gemeinsames Problem: Sie wissen nicht, wie sie die Erwartungen der Waldorfschule, auf die sie ihre Kinder am liebsten schicken würden, erfüllen sollen: Schulbeginn ist um 7:30 Uhr in ländlicher Umgebung, also Fahrgemeinschaften organisieren, alle sechs Wochen Elternabend, regelmäßig Putzdienst in den Klassen, Bau-Wochenenden, KlassenspieleKulissenKostümeCatering, Monatsfeiern, Schulfeste, BasarBackenBastelnBedienen, Fasching, Mitgliederversammlungen – kurz: Da ist richtig was los und jeder kann sich einbringen!

Aber wenn erst beide/alle vier Kinder in die Schule gehen und sich das alles mit der Zahl der Kinder multipliziert, mit Beruf, Haushalt, Geburtstagen, Zuwendung brauchenden, manchmal streitenden, manchmal kranken, Musikinstrumente übenden, ihre noch nicht elektronisch verschüttete Unternehmungslust kultivierenden Kindern? Was, wenn sie es nicht schaffen, dann noch Lebkuchenhäuser zu backen, alle Elternabende zu besuchen oder gar versuchen, sich aus dem Putzdienst »rauszukaufen«? Sind sie dann »draußen«? Ist das alles noch gesund?

Ich glaube nicht! Natürlich ist es wunderbar, wenn Kinder sehen, wie ihre Eltern von Zuschauern zu Mitgestaltern werden, wie das Schulleben dadurch bereichert und die Pädagogik zu einem gemeinsamen Anliegen aller Erwachsenen wird. Aber es muss elastisch bleiben, und da lohnt ein Blick in die geheime Waldorf-Zauberkiste: Warum lernen unsere Schülerinnen und Schüler, Geschäftsbriefe zu schreiben oder wie eine Buchführung funktioniert, warum gärtnern, tischlern oder schmieden sie, machen Praktika und »schauen in die Welt«, wo immer es nur geht? Damit sie lebenspraktisch werden! Was liegt da näher, als Schülerfirmen zu gründen, in denen sie putzen, bauen, backen, kochen, beleuchten, Obstbäume schneiden, für den Basar produzieren und alles das tun, was die Erwachsenen alleine nicht mehr schaffen? Es gibt schon viele solcher Schülerfirmen, die zeigen, dass es geht, aber haben wir das pädagogische Potenzial, das darin liegt, dass Schüler ihre Schule mitorganisieren, wirklich schon ausgeschöpft? Ist die Eltern-Lehrer-Schüler-Trägerschaft womöglich eine Riesenchance?

Ich wünsche den sechs Kindern, dass ihre Eltern sich für den etwas dorniger erscheinenden Weg entscheiden, denn dort wachsen ja bekanntlich auch die schönsten Rosen. Aber ich denke auch an einen Tagebucheintrag von Astrid Lindgren: »Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach dazusitzen und vor sich hin zu schauen!«

Henning Kullak-Ublick, von 1984 – 2010 Klassenlehrer an der FWS Flensburg; Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen, den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners und der Internationalen Konferenz der Waldorfpädagogischen Bewegung – Haager Kreis, Autor des Buches »Jedes Kind ein Könner. Fragen und Antworten zur Waldorfpädagogik«.