Hervorragend, aber ausbaufähig

Jost Schieren

Waldorfpädagogik ist Ich-Pädagogik

Der Bildungsvorgang der Waldorfschule zielt darauf, dass Kinder und Jugend­liche die Kraft ihrer Individualität erfahren, dass sie sich als Ich erleben. Dies ist vielleicht bis heute das stärkste Argument für Eltern, die ihre Kinder an die Waldorfschule schicken, nämlich dass sie das Vertrauen haben, dass dort Pädagogen sind, die ihr Kind sehen und verstehen, denen es um die Stärkung der Persönlichkeit ihres Kindes geht.

Individuelle Lernzeit

Waldorfschulen gewährleisten ungeachtet des Ethos der am pädagogischen Prozess Beteiligten systembedingt den Frei- und Schutzraum einer individuellen Förderung. Das liegt daran, dass sie keine Selektion vornehmen. Das Regelschulsystem in Deutschland arbeitet – positiv formuliert – auf der Basis homogener Lerngruppen. Es realisiert diese Lerngruppenhomogenität mittels einer rigiden Selektion, indem nach der Grundschulzeit bereits relativ trennscharfe Laufbahnentscheidungen gefällt werden.

Das Bildungsprinzip der Waldorfschule ist anders ausgerichtet: Das Ideal besteht darin, mit leistungsheterogenen Lerngruppen zu arbeiten. Es findet keine Leistungsselektion statt. Es besteht ein Bekenntnis zur Vielfalt. Alle Schüler sollen optimal in ihrer eigenen Entwicklung gefördert werden. Der Verzicht auf Notengebung und Sitzenbleiben gewährleistet damit den Kindern und Jugendlichen eine individuelle Lernzeit. Wer schneller lernt, lernt nicht besser und wird dafür belohnt oder wer langsam lernt, lernt nicht schlechter und wird dafür bestraft, wie es das Regelschulsystem praktiziert. Langsames oder schnelles Lernen sind keine prinzipiellen Größen, sondern unter anderem auch individuellen Entwicklungsphasen geschuldet und können sich während einer Schulbiographie modifizieren. Dem trägt die Waldorfpädagogik Rechnung.

Gleichgewicht der Fächer

Hinzu kommt der Verzicht auf eine Fächerhierarchie. An Regelschulen werden die Haupt- (Deutsch, Mathematik, Englisch) oder MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) höher gewichtet als die künstlerischen Fächer. Diese Hierarchisierung der Fächer, für die es auch keine gesellschaftliche, sondern allenfalls eine ökonomisch kurzsichtig begründete, Legitimation gibt, existiert an der Waldorfschule nicht. Das gibt ihr die Möglichkeit einer individuellen Begabungs- und Neigungsförderung. Dabei bleibt es allerdings nicht, denn eine allein begabungsorientierte Pädagogik wäre zu einseitig. Indem aber die Schüler in einem individuellen begabungsaffinen Fach eine Selbstwirksamkeitserfahrung machen können, erlangen sie dadurch ein größeres Selbstvertrauen, auch anderen Fächern frustrationstoleranter zu begegnen. Die Waldorfpädagogik ist jedoch oder trotzdem keine Spaßpädagogik, sie ist leistungsbezogen, allerdings knüpft sie am individuellen Leistungsvermögen an, um dieses schrittweise zu erweitern.

Ganzheitlichkeit

Die Waldorfpädagogik hat nicht nur die rational-kognitive Seite des Menschen im Blick, sondern begreift ihn zugleich auch als fühlendes und wollendes Wesen: Kopf, Herz und Hand. Die Einseitigkeit einer rein intellektuellen Bildung wird abgelehnt, denn es sollen im Waldorfunterricht zugleich künstlerisch-musische und soziale sowie konkrete (handwerkliche) Handlungskompetenzen erworben werden. Alles, was intellektuell begriffen wird, soll zugleich auch erfahren und erlebt und selbsttätig erprobt werden. So ist ein erfahrungs- und handlungsorientiertes Lernen genuiner Bestandteil der Waldorfschule. Erst durch einen Unterricht, der unmittelbar weltbezogen ist, kann langfristig auch ein verantwortliches Bewusstsein für die Mit- und Umwelt generiert werden.

Gemeinschaft

Die Waldorfschule ist die einzige Schule weltweit, die eine Klassengemeinschaft von der ersten bis zur zwölften Klasse ermöglicht. Der gemeinschaftliche Aspekt sozialen Lernens im Sinne einer Gruppenpädagogik ist entscheidend für den waldorfpädagogischen Ansatz. Neben der Klassengemeinschaft kommt auch einer lebendigen Schulgemeinschaft, zu der Schüler, Eltern und Lehrer gehören, eine besondere Bedeutung zu. Die Sozialerfahrung bei gemeinsamen Projekten und Feiern ist einer der zentralen Bildungsaspekte der Waldorfpädagogik.

Herausforderungen

Die aufgeführten besonderen Merkmale der Waldorfschule gelten bis heute – auch aus Sicht der Erziehungswissenschaft – als herausragend. Aber mit Blick auf hundert Jahre Waldorfschule gibt es auch Herausforderungen für die Zukunft. Neben vielem, was angeführt werden könnte, seien zwei Aspekte genannt:

  • Schule für alle: Aufgrund des gesetzlichen Rahmens als Privatschule ist die Waldorfschule in Deutschland fast vornehmlich eine Schule für bildungsprivilegierte Schichten geworden. Ursprünglich war sie eine Schule für Arbeiterkinder. Hier gilt es gegenzusteuern, indem mehr beispielhafte Schulen wie die interkulturellen Schulen Waldorfschulen in Mannheim, Berlin und Dresden gegründet werden.
  • Schülerpartizipation: Es gibt inzwischen viele Modelle einer aktiven, auch im Sinne der Mitbestimmung größeren Schülerpartizipation an der Schul- und Unterrichtsentwicklung. Auch an der Waldorfschule gibt es selbst­verständlich eine Schülermitverwaltung, aber dieser Bereich ist ausbaufähig.

Diese Desiderate schmälern aber nicht den großen und einzigartigen Wert einer tief humanen, an der individuellen Entwicklung aller Schüler orientierten Pädagogik.

Dr. Jost Schieren ist Professor für Waldorfpädagogik an der Alanus Hochschule.