Mehr Kunst, mehr Natur und auch mehr Heimat

Erziehungskunst | Wie stellen Sie sich die Zukunft Ihrer Schule vor?

Siegmund Baldszun | Vor 100 Jahren wurde die Uhlandshöhe gegründet. Es kam das Jahrhundert der Katastrophen. Jetzt kommen wieder 100 Jahre, und die Katastrophen werden nicht ausbleiben. Aber an dieser Schule lebt etwas, das stärker ist als Katastrophen, ein Geist der Erneuerung, den man spürt, der sich bewährt – über alle Abgründe hinweg. Sicher wird die Schule sich wandeln. Verwandlung heißt Tod und Auferstehung, und damit auch Erneuerung. Dazu beizutragen ist unsere pädagogische Aufgabe. 

EK | Was heißt das konkret?

SB | Es wird sich alles differenzieren. Es wird eine Unterstufenpädagogik geben, die ganz stark draußen im Schulgarten lebt. Alles, was wir noch an Natur haben, wird man pflegen und mit den kleinen Schülern Sinnes- und Naturerlebnisse schaffen. Die Kunst wird ebenfalls eine stärkere Rolle spielen. Künstlerische Aktivitäten, die einen Zugang zu echten Erlebnissen ermöglichen und mit authentischen analogen Erfahrungen zusammenhängen, werden den ganzen Schultag begleiten. 

Die Mittel- und Oberstufe wird sich mehr nach den Bedürfnissen der Schülerdifferenzieren. Die einen werden in die mehr theoretischen Bereiche der Kultur hineinwachsen, die anderen praktischer arbeiten wollen. In der Oberstufe wird sich der Klassenverband auflösen, weil man nach Interessen gehen wird, nach dem, was im einzelnen Schüler lebt. Es wird eine Schule sein, in der vor allem die älteren Schüler mit den Lehrern zusammenarbeiten, weil es anders gar nicht mehr geht; man wird zusammen Dinge entwickeln und erfinden. Insofern stelle ich mir das alles sehr viel anders vor als heute. Man wird auch das Gemeinschaftliche viel stärker pflegen, man wird sich als Gemeinschaft viel öfter versammeln, um sich gegenseitig Kraft zu spenden. Lernziel ist: Hoffnung geben, Mut geben für die Zukunft. Wie eine Art Heimat. 

EK | Meinen Sie, dass die wichtigste Frage der Eltern – die Frage nach den Abschlüssen – keine große Rolle mehr spielen wird? 

SB | Das wird sich völlig ändern. Es wird nicht mehr um Schulabschlüsse, sondern um Lebensaufschlüsse gehen.

EK | Wie wird diese Prognose von einem Elternteil eingeschätzt?

Stefan Neuburger | Es werden in Zukunft andere Qualitäten gebraucht. Ich denke, nicht nur Abschlüsse sind wichtig, sondern Flexibilität, Kreativität, Innovationsfähigkeit. Die Schule wird ein Ort der Ruhe, der Entschleunigung und der Entwicklung sozialer Kompetenzen werden, anstelle des Egoismus, der Selbstoptimierung und der Akzeleration. Ich bin davon überzeugt, dass wir gemeinsam – Eltern, Lehrer und Schüler – an einer Art sozialem Gebäude arbeiten. Nicht mehr ins Detail oder in die Spezialisierung sollten wir gehen, sondern Überblickskompetenzen entwickeln. Ich glaube, kommunikative Kompetenz und Aufmerksamkeit zu schulen, Kritikbewusstsein zu entwickeln, Vertrauen in sich und die Welt zu haben und die Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen, sind wichtige Qualitäten im Zeitalter der Digitalisierung und Technisierung. In Zukunft wird sich wahrscheinlich durch künstliche Intelligenz der Arbeitsmarkt völlig wandeln, dann könnten diese Fähigkeiten besonders entscheidend werden. 

EK | Ab wann wird sich an den schulischen Lebensgewohnheiten und Zielsetzungen konkret etwas ändern? 60 Prozent aller Schüler gehen aufs Gymnasium, so viele wie noch nie! Das heißt, in unserem Alltags­handeln stehen wir noch ganz im alten System. 

SN | Ich bin der Meinung, es wird kein definierter Turning Point, sondern ein sich wandelnder Prozess sein. Das heutige Streben nach dem schulischen Optimum inklusive Hochschulstudium wird wahrscheinlich in Zukunft nicht mehr dieselbe Bedeutung wie heute haben. Denn die akademische Spezialisierung wird die Herausforderungen der Zukunft nicht alleine lösen können. Die bereits genannten Kompetenzen tragen mehr und mehr zur Weiterentwicklung bei, unabhängig vom Grad der Qualifikation. Wir müssen aufmerksam sein dafür, was das individuelle Kind braucht, um seine Fähigkeiten zu entwickeln. Das wahrzunehmen, ist die wichtigste Aufgabe für uns Eltern und Lehrer der Schule. 

Beate Kötter-Hahn | Wer schon viele Schülergenerationen hat kommen und gehen sehen, bemerkt: Es sind heute andere Kinder. Wie begegnen wir ihnen? Das ist die große Aufgabe für das nächste Jahrhundert. Ich erlebe eine große Wachheit bei den Kindern. Inzwischen wissen wir, es wird immer mehr auf Erziehungskunst, also eine künstlerische pädagogische Haltung ankommen. Das ist eines der Mittel, die wir glücklicherweise mit der Waldorfpädagogik an der Hand haben, die in die Zukunft führen. Dazu sind wir viel stärker als früher auf die Zusammenarbeit mit den Elternhäusern angewiesen. Die Schule wird zu einer gemeinsamen Heimat aller Beteiligten. Die Trennung zwischen Schule und Elternhaus wird nur noch örtlich bestehen, aber auch das wird sich in Zukunft ändern. Schule wird einen Dorfcharakter annehmen, ein gemeinsames soziales Projekt werden.

EK | Wie wird die Zukunft der Waldorfschule aus Sicht einer Schülerin aussehen? 

Sarah Jeuken | Ich glaube, der Turning Point ist in jedem Moment da, wenn man aufmerksam genug ist für die Impulse, die die Schüler mitbringen – bewusst oder unbewusst. »Schule von morgen« heißt für mich, dass wir uns fragen: Was für eine Gesellschaft wollen wir haben? Wenn ich jetzt aus der Schule herauskomme, bin ich für die Gesellschaft, wie sie im Moment ist, perfekt vorbereitet. Aber in zehn Jahren wird die Gesellschaft nicht mehr so sein wie jetzt. Es wird nicht immer weiter um die persönlichen Interessen und das Digitalisieren gehen, sondern um die Frage, was das menschliche Ich ausmacht. Deswegen kommt es darauf an, dass die Schule ein Ort der Realität wird, eine reale Heimat. Ich glaube, dass die Schulen als Institution – vor allem bei Waldorf – dabei viel unterstützen können, in der Wirklichkeit anzukommen.

EK | Was könnte Schule als Institution konkret dafür leisten? 

SJ | Die Schule wird nicht mehr nur eine Institution sein, wo Schüler hingehen, sondern ein Ort menschlicher Begegnung. Die Schüler werden miteinander lernen und arbeiten, auch in einzelnen Arbeitsgruppen und Interessensgemeinschaften, zusammen mit den Lehrern. Jeder wird vom anderen lernen und jeder wird das Lernen in sich entdecken. Das Gemeinschaftsbildende wird in der Schule immer zentraler werden. 

EK | Werden sich die Klassenzimmer also auflösen? 

BKH | Es braucht mehr Freiräume. Wo können sich Schüler heute treffen? Meist gibt es keinen Ort dafür. Und es braucht Zeit, die dafür zur Verfügung gestellt wird. In Zehn-Minuten-Pausen kann nichts entstehen.

SJ | Ich könnte mir gut vorstellen, dass es nicht mehr nur einen bestimmten Lehrer gibt, sondern dass Menschen auch von außerhalb kommen, dass ältere Schüler mit jüngeren zusammenarbeiten, dass es mehr und längere Pausen gibt, und das Vertrauen, dass sich die Schüler selbst organisieren, austauschen und mit den Inhalten beschäftigen. In der Oberstufe fällt mir am meisten auf, wie viel ich mit meinen Mitschülern neben der Schule diskutiere. Es gibt vielleicht zwei oder drei Unterrichte, in denen das einmal im Jahr irgendwie zugelassen wird. Es muss viel mehr Raum für Gespräche geben. 

EK | Heißt das auch, weg von engen Fächergrenzen, vom zeitlich getakteten Unterricht und Stundenplan?

SB | Wir werden in den nächsten zehn bis 20 Jahren die Struktur nicht völlig auflösen können. Leitplanken zu haben ist auch wichtig. Man kann nicht sagen: Jetzt machen wir so ein freies Ding. Es braucht eine gewisse Struktur, die den Geist der Waldorfpädagogik wahrt. Das Besondere an ihr ist, dass sie das menschliche Wesen differenziert betrachtet und daraus eine Pflege der seelisch-geistigen Fähigkeiten ableitet. Das führt zu besonderen methodischen Ansätzen. Zukünftig ist hierbei der salutogenetische Aspekt. Denn wenn man keinen gesund entwickelten Leib hat, hat man später keine Kräfte für das zur Verfügung, was man machen will. Wir als Lehrer sehen immer häufiger, dass auf diesem Gebiet nachgeholt werden muss, was nicht im Elternhaus angelegt worden ist. Das wird auch die Eltern dazu bringen, dass sie viel stärker mit den Pädagogen zusammenarbeiten werden. 

EK | Sollten die Waldorfschulen sich deutlicher auf ein anthroposophisches Menschenbild beziehen?

SB | Wichtig ist, den Eltern zu vermitteln, was den Kindern Kraft gibt, damit sie ihren Weg finden in der Welt, dass sie zu etwas Höherem aufschauen, zu ihren höheren Begabungen, zu ihrem höheren Selbst. Das sind Kräfte, die man pflegen muss. Das ist keine Glaubensfrage, sondern eine Lebensfrage.

BKH | Ich denke, dass es für viele Eltern ein großer Vorteil wäre, wenn solche Fragen wirklich im Zentrum stünden. Die Schule bildet nicht nur Schüler, sondern auch Eltern. Eine viel engere Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus wird deshalb immer wichtiger.

SB | Es ist wichtig, ein Leitbild zu formulieren, das allgemein verständlich ist, dass man die Hauptpunkte hervorhebt, ohne gleich anthroposophische Begriffe zu benutzen. Wenn wir Menschen ausbilden wollen, die Verantwortung in der Zukunft übernehmen, dann müssen wir diese Verantwortung heute tragen und dürfen nicht einfach in einem Ghetto unterrichten. Vielleicht muss man dafür auch mehr an der öffentlichen Diskussion teilnehmen oder mehr über Vortragstätigkeit und Kommunikation mit anderen Schulen wirken. Das wird aber nicht funktionieren, wenn man ein fertiges pädagogisches Konzept nach außen trägt und damit Werbung macht.

BKH | Es gibt inzwischen unzählige Publikationen, die völlig offen mit anthroposophischen Fragen und Gedanken umgehen, die auch so geschrieben sind, dass sie jeder verstehen kann. Ich glaube nicht, dass es unsere Aufgabe ist, in einem Hyde Park Corner Waldorf zu predigen. Der einzige Weg, den wir haben, führt über die Menschen, die hier an der Schule sind – das sind die Eltern, die Schüler und die Kinder der Schüler.

Die Fragen stellte Mathias Maurer