Rückblick auf 200 Jahre

Volker Frielingsdorf

In den ersten fünfzig Jahren entwickelte sich die Waldorfpädagogik trotz des Verbots in verschiedenen totalitären Staaten kontinuierlich, worauf sie sich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts ungemein dynamisch ausbreitete. 

Im Mittelpunkt vieler Rückblicke des diesjährigen Jubiläums steht das Jahr 2019, das aus heutiger Sicht genau die Mitte von 200 Jahren Waldorfpädagogik bildet. Damals gab es in der ganzen Welt immerhin schon rund 1.100 Waldorfschulen. Sie waren in den fortgeschrittenen postindustriellen Gesellschaften zu einer festen Größe in der Schullandschaft der seinerzeit noch bestehenden Nationalstaaten geworden – teils bewundert, teils ignoriert oder bespöttelt. 

Dass sich dies im vergangenen Jahrhundert so stark geändert hat, liegt an verschiedenen Entwicklungstendenzen, die seither zu einer allmählichen Popularisierung der Ideen Rudolf Steiners geführt haben. Entscheidenden Anteil daran hatte die Entdeckung einer Filmaufnahme mit einem Steiner-Interview, die 2033 zufällig gefunden worden war. In diesem bemerkenswerten Gespräch mit einem französischen Journalisten hatte Steiner 1922 auf eine entsprechende Frage geantwortet: »Ich? Natürlich bin ich kein Steinerianer.« Und lächelnd hatte er hinzugefügt: »Wer nicht in der Lage ist, immer wieder einmal auch das Gegenteil von dem zu behaupten, was ich gesagt habe, kann eigentlich nicht als Anthroposoph bezeichnet werden.«

Diese und ähnliche Äußerungen haben 2033 beträchtliches Aufsehen erregt. Sie irritierten die orthodoxen Anthroposophen ebenso wie die orthodoxen Kritiker und Gegner. Ansonsten wirkten sie aber befreiend und führten dazu, dass sich viele aufgeschlossene Menschen für Steiner zu interessieren begannen. So wurde 2061 sein 200. Geburtstag in der gesamten gebildeten Welt in einer Weise gefeiert, die an Umfang und Intensität dem Goethejahr 2049 nur wenig nachstand. 

Diese bemerkenswerte Entwicklung, dass Steiners Werk nicht länger als Erbhof der »Anthroposophen« galt, hatte die Waldorfschulen dann allerdings in den 2060er Jahren vor nicht geringe Probleme gestellt. Denn damals gab es an zahlreichen öffentlichen und anderen freien Schulen mehr und mehr Lehrkräfte, die sich zwanglos aus dem Fundus der Waldorfpädagogik bedienten und sie auf ihre Weise umzusetzen versuchten.

Die »richtigen« Waldorfschulen waren dadurch gezwungen, sich das anthroposophische Fundament ihrer Pädagogik neu zu erarbeiten. Diese Rückbesinnung bewirkte, dass zahlreiche Traditionalismen aufgegeben wurden und entwicklungspsychologische Gesichtspunkte wieder in den Vordergrund rückten. 

Die seit 2061 forcierte Neuausrichtung der Waldorfpädagogik konnte an ähnliche Bestrebungen in den Jahren vor und nach 2019 anknüpfen. Schon in dieser Zeit war nichts unversucht gelassen worden, die anthroposophische Pädagogik in der Erziehungswissenschaft gewissermaßen hoffähig zu machen. Auch wenn dies von manchen Verächtern in den eigenen Reihen als unbillige »Akademisierung« abgetan wurde, war dies doch wichtig, um die Deutungshoheit über die Grundlagen der eigenen »Erziehungskunst« zu behaupten. 

Außerdem gab es schon in den 2020er Jahren weit in die Zukunft weisende Positionierungen, die zwar dem damaligen Zeitgeist zuwiderliefen, aber für die weitere Entwicklung der Waldorfschulen besonders wichtig wurden:

  • Der entschiedene Einsatz für die Bewahrung und den Schutz der Kindheit vor fatalen Einflüssen aus der Außenwelt war auch und gerade außerhalb Mitteleuropas auf Zustimmung gestoßen, namentlich in China, wo 2118 die 3.000. Waldorfschule eröffnet wurde.
  • Entgegen einer wachsenden Gleichgültigkeit in moralischen Dingen betonte die Waldorfpädagogik nun wieder verstärkt, wie wichtig es ist, Kindern und Jugendlichen Werte wie Ehrfurcht, Achtung und Respekt zu vermitteln und vorzuleben. Dies bewirkte ausgerechnet in den USA einen regelrechten Boom. 
  • Ebenso wichtig war es, der damals übermächtig werdenden Digitalisierung mit einem differenzierten Konzept entgegenzutreten, das die Schüler vor der totalen Vereinnahmung durch immer neue Medien bewahren sollte. Digitalfreie Schulen, die heute eine Selbstverständlichkeit sind, wurden so auf den Weg gebracht. 
  • Ein weiteres zentrales Betätigungsfeld der Waldorfpädagogik war die Bewahrung der Schöpfung durch viele neue Projekte zum Klimaschutz, zur Erhaltung der Artenvielfalt, zum Erleben in der Natur, zur Rettung der Bienen und anderes mehr, wodurch die Waldorfschulen in Sachen Nachhaltigkeit zum Vorreiter wurden. 
  • Die Grundidee der freien humanen Schule, wie sie von den Waldorfschulen propagierte wurde, machte diese anschlussfähig. Die wachsende Akzeptanz ermöglichte alsbald einen weltoffenen Austausch mit anderen Richtungen, die seitdem sogar Lizenzgebühren für spezielle Waldorftools zahlen. 
  • Durch ihr vehement vorgebrachtes gesellschaftlich-politisches Engagement eroberten sich die Waldorfschulen seit etwa 2070 einen festen Platz in der öffentlichen Debatte, aus der sie seither nicht mehr wegzudenken sind. Ihr gestiegener Stellenwert wurde auch darin sichtbar, dass Vertreter der Waldorfpädagogik inzwischen vielerorts in Bildungskommissionen und Schulbehörden mitarbeiten. 

Alles dies zeigt, dass es den Waldorflehrern in der nunmehr siebten Generation auf bemerkenswerte Weise gelungen ist, die Grundidee einer Erziehung, die auf eine Philosophie zur Freiheit abzielt, immer wieder neu zu beleben und zeitgemäß zu verwandeln. Das berechtigt zu der Hoffnung, dass in den 2120er Jahren die zehntausendste Waldorfschule gegründet werden kann.

Prof. Dr. Volker Frielingsdorf war Oberstufenlehrer für Geschichte und Deutsch an der Freien Waldorfschule Schopfheim. Derzeit ist er Professor für Waldorfpädagogik und ihre Geschichte an der Alanus Hochschule.