Waldorfpädagogik in den Kulturen der Welt
Die Waldorfbewegung wird immer internationaler. Weltweit gibt es über 1.000 Schulen und 1.800 Kindergärten in mehr als 70 Ländern. Jüngste Pioniere sind Myanmar, Griechenland und die Türkei. Daher ist es nicht verwunderlich, dass uns seit einigen Jahren die Frage beschäftigt, wie diese Pädagogik zum Beispiel in Russland, Australien oder Japan aussehen kann. Hat es Sinn, das Christgeburtspiel im neuseeländischen Hochsommer aufzuführen, während den in Fellen und Wollmützen gekleideten Schauspielern der Schweiß von der Stirn rinnt?

Die indigenen Riten werden bewusst mit einbezogen: Kallchay-(Maisernte)-Fest im Kindergarten in Peru.

Im Garten des Kindergartens der Nairobi Waldorf School in Kenia.
Die christlichen Jahresfeste, vor allem Weihnachten, Ostern, Johanni und Michaeli sind eng mit den Jahreszeiten in Mitteleuropa verbunden. Diese Feste fallen im Kalender mit einem bestimmten Stand der Sonne oder des Mondes zusammen. Auch erleben viele Menschen zu bestimmten Jahreszeiten eine bestimmte Stimmung in der Natur. Ostern, das im europäischen Frühling stattfindet, ist mit neuem Wachstum verbunden und Weihnachten, zur Zeit der Wintersonnenwende, feiert das Erwachen des Lichtes in der dunkelsten Jahreszeit. Es muss daher untersucht werden, wie christliche Feste mit den lokalen Ereignissen und der Naturstimmung verbunden sind. Gilt es nicht vornehmlich zu hinterfragen, ob sich Wochensprüche, Jahresfeste oder mitteleuropäischer Erzählstoff auch für andere Kulturregionen eignen?
Neil Boland, Waldorflehrer in Neuseeland, hat Lehrkräfte an Waldorfschulen befragt, die in der Maori-Tradition beheimatet sind. Ein Ergebnis war, dass der Waldorfpädagogik ein »eurozentrischer Blick« anhaftet. Boland plädiert dafür, das Curriculum zu hinterfragen, zu ergründen, wie es sich in den lokalen Kontext fügt, und zu untersuchen, ob die Schulgemeinschaft Sichtweisen von Minderheiten berücksichtigt. Es geht darum, die Pädagogik mit dem Ort, der Zeit und den Menschen vor Ort zu verbinden.
Gehen wir Beispielen nach, bei denen die lokale Kultur in der Waldorfpädagogik zum Ausdruck kommt. Carlo
Willmann hat sich in einem Forschungsprojekt mit der Frage beschäftigt, wie das besondere Erziehungskonzept an Waldorfschulen mit Augenmerk auf die sogenannte »Religiöse Erziehung« in nichtchristlichen Kontexten angewendet wird. Dafür hat er die Sekem-Schule in Ägypten und die israelischen Waldorfschulen in Harduf und Jerusalem untersucht.
Willmann zeigt, dass Steiner einen pädagogischen Religionsbegriff entworfen hat, der weniger die inhaltlichen Aspekte einer Religion zum Gegenstand hat, als vielmehr die Gefühle und den Willen anregt, wie zum Beispiel das Vertrauen, das Staunen oder die Ehrfurcht. Didaktisch wird das durch den bildhaften Unterricht umgesetzt, durch Sprache, Gesten, Bilder, Musik, Symbole und Gleichnisse und in der Praxis meist von religiösen Motiven begleitet. So findet man an europäischen Waldorfschulen religiöse Lieder, Jahreszeitentische, das Feiern von christlichen Festen, Sagen und Legenden.
An der Sekem-Schule, stellt Willmann fest, nimmt die religiöse Erziehung einen wichtigen Stellenwert im Schulleben ein und in seinen Forschungsgesprächen fiel oft der Satz: »Alles ist Religion«, denn im islamischen Kontext ist die Erziehung Teil der religiösen Lebenspraxis.
»Als Beispiel kann eine von dem Begründer von Sekem, Ibrahim Abouleish, geschilderte regelmäßige Arbeitssequenz aus den Konferenzen herangezogen werden. Die islamische Tradition spricht Allah 99 Namen zu, die zugleich positive Prädikate Gottes darstellen und dem unzulänglichen menschlichen Erkennen eine nähere Qualifikation des grundsätzlich unfassbaren Wesens Gottes erlauben sollen. Regelmäßig wird in den Konferenzen ein Name Allahs meditiert und auf das pädagogische Handeln bezogen. Wenn ›der Geduldige‹ ein Name Allahs ist, kann der Lehrer diesen Namen meditieren und daraus die Kraft ziehen, selbst die Gabe der Geduld in sein pädagogisches Handeln verstärkt einfließen zu lassen.«
Erzählstoff
Welche Auswahl an waldorfpädagogischem Erzählstoff, an Legenden, Symbolen und Geschichten treffen die Lehrkräfte an den israelischen Schulen und an der Sekem-Schule? Willmann beschreibt, wie an der Sekem-Schule Gebete, Sprüche und Geschichten aus der arabischen Kultur und dem Islam verwendet werden. An den israelischen Schulen wurde sogar ein eigenes Curriculum für die Klassen eins bis acht entwickelt. Im zweiten Schuljahr werden zum Beispiel jüdische Legenden großer Rabbis erzählt, in der vierten Klasse die Erzählungen der Richter Debora Gideon, Samuel, Josua und im Mittelpunkt der fünften Klasse steht die Davidsgeschichte. Es wird deutlich, dass die Auswahl des Erzählstoffs etwas über die eigene Kultur aussagt. Anhand dieses Beispiels könnte die Aufgabe sein, darüber zu reflektieren, wie wichtig für die Schüler ein solcher Bezug ist, wie er sie in Raum und Zeit beheimatet, ihnen Wertvorstellungen (wie in Sekem) über die wichtige kulturelle Tugend der Reinheit vermittelt oder wie anhand der großen Rabbis im israelischen Kontext Mut und Weisheit zum Ausdruck kommen.
Jahresfeste
Rhythmisch sich wiederholende Jahresfeste sind ein wichtiger Bestandteil der Kultur und wichtig für das kindliche »Begreifen« der kulturellen Formung von Raum und Zeit. Festlichkeiten und Rituale spiegeln kulturell tradiertes Wissen wider und sind daher besonders für Kulturforscher ein idealer Rahmen, um etwas über die jeweilige Gesellschaft zu erfahren.
Für die Akteure selbst sind sie wichtige Momente eines Jahres, die ihnen Halt und Orientierung geben und mithilfe derer sie ihre kulturellen Besonderheiten ausdrücken.
Vera Hoffmann hat in ihrer Doktorarbeit die Jahresfeste an den Waldorfschulen Kusi Kawsay in Peru sowie Nairobi in Kenia untersucht. Die andine Waldorfschule Kusi Kawsay liegt auf über 3.000 Metern in der Nähe von Cusco. Sie richtet ihren Jahreszyklus an den alten Ritualen der Andenkultur aus. Die Schulgemeinschaft begeht zum Beispiel gemeinsam die rituelle Ehrung der »Pachamama«, der Muttererde. Weiter beschreibt Hoffmann die Suche der international ausgerichteten Waldorfschule Nairobi nach neuen Formen. Sie war früher an christlichen Festen orientiert, heute feiert sie ein Lichterfest, in dem Elemente aus allen Weltreligionen ihren Platz haben.
Silviah Njagi vom Kindergarten an der Nairobi Waldorf School und Dozentin am ostafrikanischen Kindergartenseminar beschreibt, wie der Übergang von der Trockenzeit zur Regenzeit ein wichtiger Augenblick im Kindergarten und in der Schule darstellt. »So nehmen wir für den Jahreszeitentisch kahle Zweige, Steine und Ameisen, die in dieser Zeit nach Essen suchen. Und auf einmal, Mitte März, beginnt der starke Regen und innerhalb von zwei Tagen ist alles grün. Das nährt uns und es ist Zeit, mit allen Farben dieser Übergangszeit das Regenbogenfest zu feiern.« Ein weiterer Aspekt, den Njagi nennt, ist die afrikanische Tradition des Geschichtenerzählens. Sie stellt immer wieder fest, dass es den Studierenden am Ostafrikanischen Lehrerseminar leicht fällt, Geschichten frei zu erzählen. Es ist Teil ihrer Kultur.
Lehrplan auf Kisuaheli, Arabisch, Französisch …
Ein »Lehrplan« an Waldorfschulen ist nicht wie ein gewöhnlicher Lehrplan mit festgelegten Lerninhalten. Er ist ein offenes Konzept, welches sich an den individuellen, sozialen und regionalen Möglichkeiten vor Ort orientiert.
Nach Martyn Rawson soll ein Waldorflehrplan Erfahrungen, Tätigkeiten, Themen, Geschichten und Phänomene, die zur Lernumgebung der Kinder und jungen Menschen gehören, bereitstellen, so dass sie sich darin entfalten, ihre Fähigkeiten schulen, ihre Gefühle pflegen und ihre Beziehung zur Welt und zu anderen immer wieder neu finden können.
Es geht immer wieder darum, den Lehrplan in den verschiedenen Kulturen neu zu beleben. Es gilt dabei, den eigenen kulturellen Hintergrund mit der Entwicklung der Kinder zusammenzubringen.
Über den Umgang mit dem Lehrplan und den verschiedenen Kulturen schreibt Alain Denjean: »Neulich machte mich eine Deutsch unterrichtende Kollegin darauf aufmerksam, dass sie bei der Behandlung des Nibelungenlieds in der zehnten Klasse die Gestalt von Dietrich von Bern ausführlich bespricht, weil er ein großes Ideal für die Jugend verkörpert: Der Sieg über den Feind wird nicht genutzt, um die eigene Macht und das Selbstbewusstsein auszubauen, sondern er versucht, den Gegner zu würdigen und im Frieden mit ihm gemeinsam eine bessere Welt zu gestalten. Nun, sagte sie strahlend, genau diese Haltung dem Menschen gegenüber finde sie bei dem kürzlich verstorbenen Nelson Mandela. In ihrer Freude leuchtete für mich der Reichtum des Lehrplans, der nicht vorschreibt, mit südafrikanischen Schülern das Nibelungenlied zu besprechen, sondern in jeder Kultur Einstiegsmöglichkeiten zu finden, um anthropologische Themen zu behandeln, welche die Seele der Schüler zur rechten Zeit in ihrer Entwicklung weiterführen.«
Dieses Beispiel ist interessant: Einerseits heißt es für die jeweilige Lehrperson in ihrer Kultur, eigene, vor Ort beheimatete Beispiele zu finden, andererseits kann es aber auch bedeuten, aus verschiedenen Kulturen das den Schülern in ihrer Entwicklung angemessene Beispiel zu finden und zugleich auch die Möglichkeit zu bieten, den eigenen Horizont zu erweitern.
Ist ein internationaler Waldorf-Lehrplan denkbar? Christof Wiechert, ehemaliger Leiter der Pädagogischen Sektion am Goetheanum, skizziert anhand von Märchen folgendes Bild: »Die Kriterien für einen Internationalen Lehrplan können nur in abstrakter Form gegeben werden: Erstens braucht man eine gründliche Kenntnis des Stoffes und zweitens eine gründliche Kenntnis der Entwicklungspsychologie, besonders der anthroposophischen Anthropologie. Für Märchen – aber auch für andere Erzählstoffe – gelten zum Beispiel folgende Kriterien: In einer Geschichte müssen Urbilder, sogenannte Archetypen vorkommen, wie zum Beispiel die böse Hexe, die gute Fee, das unschuldige Kind, die gute Tat, die schlechte Tat. Dann sollte eine Geschichte eine Entwicklung zeigen, so dass sie sich von einem Anfangs- zu einem höheren Zustand entwickelt, also eine Art Durchführung, manchmal auch mit einem krisenartigen Charakter. Und schließlich sollte ein Märchen oder eine Geschichte im Guten enden.«
Das bedeutet, dass ein internationaler Lehrplan denkbar wäre, der aber nicht konkrete Inhaltsangaben vorgibt, sondern Kriterien nennt, mit denen man sich die Inhalte in der jeweiligen kulturellen Region erarbeiten kann.
Zur Autorin: Katharina Stemann arbeitet für die Online-Plattform »Waldorf Ressourcen«, für die Pädagogische Sektion und die Internationale Konferenz. www.waldorf-resources.org
Literaturhinweise:
N. Boland: Im Gespräch mit Karin Smith, Januar 2017 | N. Boland: The globalisation of Steiner education: Some considerations. RoSE Journal Vol 6, Dezember 2015 | A. Denjean: Lehrplan auf Kiswahili, Arabisch, Französisch..., Rundbrief Pädagogische Sektion, Nr. 51, Ostern 2014 | V. Hoffmann: Jahresfeste an Waldorfschulen in nichtchristlich-konfessioneller und multireligiöser Umgebung, Masterarbeit RSUC Oslo, 2015 | S. Njagi: Es dreht sich wirklich um das Kind. Waldorf Resources, Juli, 2015 | M. Rawson: Immer wieder neu: Waldorfpädagogik. Aus: Vorwort zur chinesischen Ausgabe von »The Educational Tasks and Content of the Steiner Waldorf Curriculum«. Waldorf Ressourcen, Januar 2017 | M. Rawson / Z. Li / P. Panosot: History and Culture Curriculum – A Multi-cultural Approach. Notes of a workshop at the Asian Waldorf Teachers’ Conference. Seoul, 2013 | Chr. Wiechert: Korrespondenz per E-Mail 12./ 14. Oktober 2016, aus: waldorf-resources.org | C. Willmann: Religiöse Erziehung an Waldorfschulen im nichtchristlichen Kontext. RoSE, Vol 5 / Special Issue, August 2014
Raul Guerreiro, Nürtingen, B-W, 25.09.17 22:09
In einer Zeit des kontinuierlich expandierenden Globalismus und der interkulturellen Beziehungen (auch Krisen und Kämpfe) ist das Artikelthema (übrigens vor Jahren in dem Buch von Stefan Leber und Walter Liebendörfer "Anthroposophie und Waldorfpädagogik in den Kulturen der Welt" behandelt) hoch interessant und komplex. Ausser der differenzierten kulturellen, sprachlichen, religiösen und historischen Eigenschaften der auf dem Nordhalbkugel westlich und östlich von Mitteleuropa lebende Völker, geht es auch um die immer noch im Bewußtseinsschatten liegenden Länder der Südhalbkugel.
Die Nordhalbkugel ist Heimat für 90% der Weltbevölkerung. Ihre Staaten breiten sich über ca. 67% der Erdoberfläche unseres Planeten aus und die meist gesprochene Sprache ist Chinesisch. Demgegenüber leben in der Südhalbkugel lediglich 10% der Weltbevölkerung und Sprache Nummer Eins ist Portugiesisch. Naturorganisch ist diese Region zu 81% mit Ozeangewässern bedeckt. Das faszinierende Detail ist jedoch die irdisch-kosmische Lage beider Hälften der Erdkugel. Dank der weisheitsvollen Erdachsenneigung unterscheidet sich das Leben in beiden Halbkugeln nicht nur durch nuancierte kulturelle und geographische Charakteristiken sondern auch durch den konträren planetarischen Herzschlagrhythmus, den wir Jahreszeiten nennen.
Das Phänomen Weltverbreitung der Waldorfschulen und ihre Differenzierungen verlangt eine delikate Betrachtung der Akkomodationen, die diese futuristische Pädagogik ausüben muss, um der natur-geistigen Lage der Nord- und Südhalbkugel zu dienen und gleichzeitig treu zu ihrer höheren Arbeitsmission zu bleiben.
Die Frage ist nicht nur wie eine "eurozentrische" Waldorfpädagogik irgendwo anders (zum Beispiel innerhalb der Tradition der indigenen Völker der Maori in Neuseeland) zu realisieren ist, oder wie ein theoretischer Welt-Waldorfcurriculum aussehen könnte oder sollte, sondern wie die anthroposophisch-pädagogischen Grundlagen der Waldorfpädagogik mit den karmisch-kollektiven Umständen der nördlichen und südlichen Zivilisationen und deren Jahreszeitenoppositionen harmonisiert sein sollten. Um einen Aspekt dieses komplexen Themas zu erwähnen ist es interessant daran zu erinnern, dass Rudolf Steiner eine 6-monatige Verschiebung der 52 Wochensprüche des Seelenkalenders empfohlen hat, wenn man in der südlichen Halbkugel lebt.
Die Waldorfschulen werden bald weltweit ihr 100-jähriges Jubiläum feiern. Wir erleben heute fast ab Kindergartenalter eine historische Konfrontation mit dem hysterischen Trend der digitalen-egotistischen Verbindung aller-Menschen-mit-allen-Menschen (nach dem erfolgreichen Experiment von Marconi um 1902 mit dem ersten drahtlosen Telegramm über den Atlantik hatte Rudolf Steiner schon kommentiert, dass diese Funktechnik in Zukunft ein "mentales Weltnetz" bilden würde). Die Waldorfpädagogik muss demnächst eine universelle und inspirierte methodische Metamorphosis erlangen, um eine andere Art von unsichtbarem aber wirklich gemeinschaftsbildendem "Weltnetz" zu pflegen.
Raul Guerreiro, pens. Waldorflehrer / Fachübersetzer
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